»George-Schriften«

Für die Gedichtbände Stefan Georges wurden ab 1904 eigene Typen verwendet. Die Konstruktionsprinzipien der mit diesen gedruckten Schrift: Sie ist serifenlos mit optisch gleichbleibender Strichstärke. Die Variation in der Strichstärke zum optischen Ausgleich wird mit der – dem strengen Programm einer fortschreitenden Formalisierung unterworfenen – Weiterentwicklung der St.-G.-Schrift, die sich in mehreren Stufen bis 1909 bzw. 1927 vollzog, zurückgenommen, so daß eine Klassifikation zwischen älterer Grotesk und geometrischer/konstruierter Grotesk sinnvoll erscheint. Die gedruckte »George-Schrift« weist gewisse Ähnlichkeiten mit der von George ab 1897 mit der Hand geschriebenen »Stilschrift« auf, was zur Verwechslung und fallweisen Gleichsetzung beider Schriften führte.

Diese Schrift ist seit 1994-2010 bzw. bereits seit 2003 digital erhältlich. Die Version 1994-2010 von Colin Kahn wäre geeignet, die Reihe »Schriften, auf die wir alle gewartet haben« zu begründen.

Eine Polemik in [1], [2], [3] Fragmenten

1.

Colin Kahns Version der St.-G.-Schrift (ST G Schrift One, Quelle: http://www.p22.com/typecaster/
master/caster.html)

Die Beschreibung auf der Seite des Schriftvertriebs P22 bzw. des Schriftherstellers International House of Fonts liest sich wie folgt:

»St. G Schrift is a font based on the type designs of German poet Stefan George circa 1907. This sans-serif face featured a few variations found in books published by George in Berlin. One features many unusual letterforms, while Two is a more standard sans. The Italic version is a new design Colin Kahn.« [Beschreibung des Schriftherstellers P22]

Jede einzelne Behauptung, die die Digitalgießerei in diesem kurzen Abschnitt aufstellt, ist, gelinde gesagt, problematisch. In der Folge greife ich einige besonders haarsträubende Prasen heraus.

»the type design of Stefan George«

Umstritten. Manch andere behaupten ja (insbesondere in literaturgeschichtlichen Überblickswerken), es handle sich um ein ›type design of Melchior Lechter‹. Dass George auf der in vielen Fällen hilfreichen Webseite Myfonts.com dank »new design Colin Kahn« als Schriftentwerfer auftaucht, ist ja noch ganz witzig und sollte von der künftigen George-Forschung einmal unter die Lupe genommen werden. Gesichert ist allerdings lediglich – und dies unterschlagen die Literaturgeschichten ebenso wie diverse George-Monografien – die Wahl einer — seiner »Stilschrift« ähnlichen — Schrift durch George.

»circa 1907«

1897 führt George in einigen Manuskript-Reinschriften seine so genannte »Stilschrift« ein. Anfang 1904 erscheint der erste Druck Georges in St.-G.-Schrift: ebenfalls »Das Jahr der Seele«, in dritter Auflage. Man urteile selbst zu »circa 1907« – genau ist anders.

»few variations«

A few variations weist die St.-G.-Schrift in den unterschiedlichen Drucken, die George zwischen 1904 und 1933 drucken ließ, jedenfalls auf, diese sind dokumentiert in S.K., Der Teppich der Schrift. Typografie bei Stefan George (Frankfurt am Main 2007), 74-76.

Quite a few variations in Konstruktion und Übereinstimmung mit den George-Drucken erlaubt sich Colin Kahn mikrotypografisch bei der Umsetzung in seine digitale Version. Nur einige und nur auf die ST G Schrift One bezogen:

  • Die Ziffern entsprechen keiner Vorlage, sie erfüllen damit nicht den offensichtlichen Anspruch, die St.-G.-Schrift digital nachzubilden. Dies betrifft insbesondere die geschwungenen Haarstriche.
  • Das kleine w ist bei George nie mit einem geschwungen-geschweiften letzten Aufstrich zu finden. Nicht einmal handschriftlich. Hier unterläuft dem Digitalisator eine grobe Abweichung von den Prinzipien der St.-G.-Schrift – und er nähert sich seiner Italic-Version an (zu dieser siehe unten).
  • Das verjüngte Häkchen am oberen Teil des f ist misslungen. Dass das f auch bei George wegen des nur rechts vorhandenen Querbalkens nicht unbedingt ausgewogen aussieht, ist noch kein Grund, eine ästhetisch schlechtere und die Konstruktion betreffend an den Haaren herbeigezogene Lösung abzubilden.
  • Die Satzzeichen passen nicht: Beistrich, Semikolon, Rufzeichen, Anführungsstriche sind neben allem bei George Gedruckten. Hinzu kommt, dass zumindest der P22-eigene „Typecaster“ weder Hochpunkt noch Hochstrich darstellt. Das selbe gilt für Umlaute und ß sowie weitere Sonderzeichen.
  • Die Querstriche des M sind bei George erst in der letzten Variante der St.-G.-Schrift analog zum N nicht oben am Grundstrich angesetzt. Damit ist »circa 1907« zu erweitern bis 1927.
  • Der obere Querbalken des A, den George 1907 in »seine« Schrift einführt, ist in der Kahn-Schrift um ein Wesentliches breiter als bei George.

»unusual letterforms«

So richtig die Ansage auch auf den ersten Blick zu sein scheint, die Formen der St.-G.-Schrift wären besonders unbekannt, ungewohnt oder ungewöhnlich: Die einzelnen Buchstabenformen sind alles andere als das. Die »George-Schrift« beruft sich deutlich – und mehrfach – auf Vorbilder aus der Schriftgeschichte. Primäre Quellen von Georges Schriftgestaltung: (a) klassische Antike – zu einer doch ziemlich berühmten (allerdings nur Großbuchstaben umfassenden) serifenlos gemeißelten Schrift aus dem 2. Jh. v. Chr. vgl. den Stein von Rosetta, zu einzelnen Minuskelformen vgl. z.B. das griech. τ neben Georges t – und (b) gotisches Mittelalter – Stichwort karolingische Minuskel.

»One Two«

Mit der Variante »Two« versucht Kahn das bislang nicht eindeutig ermittelte Vorbild (Versuche unternimmt Roland Reuß in dem Aufsatz Industrielle Manufaktur. Zur Entstehung der »Stefan-George-Schrift«, in: Doris Kern u. Michel Leiner (Hrsg.), Stardust. Post für die Werkstatt. KD Wolff zum Sechzigsten [Frankfurt am Main, Basel 2003], 166-191) der St.-G.-Schrift gleich mitzurekonstruieren. Die Reihenfolge in »Two One« umzukehren wäre erstens nachvollziehbarer gewesen. Zweitens: Wenn man schon das Vorbild (hier: eine Groteskschrift des ausgehenden 19. Jahrhunderts) einer historischen Schrift (hier: der St.-G.-Schrift) nachfühlend rekonstruieren möchte, wäre es sinnvoll, bei jenen Schriften, die als Vorbilder und Ausgangspunkte gedient haben könnten, zu bleiben und deren Merkmale zu studieren – bspw. dort, wo sie bereits digital zur Verfügung stehen.

2.

»Italic version«

Colin Kahns Kursive (Quelle: http://www.p22.com/typecaster/
master/caster.html
). Letzte Strophe von
Die Heimkehr
aus dem Schlussband der »Gesamt-Ausgabe (Endgültige Fassung)« (1932)

ST.G Shrift [!] Italic is an art nouveau version of the roman. The OpenType version includes central European characters, small caps, titling caps, titling small caps and ornaments. (sagt Myfonts zur ST G Shrift Italic)

Es gibt keine kursivgestellten Jugendstilschriften. Die Schriften der Zeit waren von drei maßgeblichen Faktoren her konzipiert:

  • »Originalität« und Abgrenzung von Bestehendem: Schaffung von Neuem, das sich sowohl von Althergebrachtem als auch vom aktuellen Buch- und Druckgewerbe deutlich absetzt. Durch die Industrialisierung hatte dieses im Laufe des 19. Jahrhunderts einen Niedergang erfahren, sodass Jugendstil, Werkbund, die Pressen und Werkstätten von Poeschel bis Insel zum Verlag der Blätter für die Kunst mit Recht auf eine Re-Manualisierung des und Qualitätssteigerung im Druckgewerb pochten. In der Schriftgestaltung um die Jahrhundertwende findet sich teilweise ein Streben nach Originalität – paradigmatisch in den Jugendstil-Schrifttypen –, teils aber auch nur der schlichte Rekurs auf jahrhundertealte Traditionen.
  • Ein weiteres Prinzip der Jugendstilschriften ist die Abgrenzung von bestehenden Druckschriften durch Aufwertung der Handschrift. Die Kursive trägt immer schon und konzeptionell das Handschriftliche, ergo sind die Jugendstilschriften von Grund auf kursiv (ohne schräggestellt zu sein) – es muss also präzisiert werden: Es gibt keine kursivgestellten Jugendstilschriften, diese haben bereits konzeptionell kursiven Charakter. Zu einer Kursiven eine Kursive zu schneiden ist vor diesem Hintergrund fragwürdig.
  • Andererseits ist unter den Schriftgestaltern und Typographen eine Diskussion um die »Zweischriftlichkeit« (Silvia Hartmann, Fraktur oder Antiqua. Der Schriftstreit von 1881 bis 1941 [Frankfurt am Main u.a. 1998]) von Fraktur und Antiqua zu beobachten, die nach einem ersten Strohfeuer an der notorischen Epochenschwelle um 1800 und einer weitgehenden Beruhigung (etwa 1815-1875) wieder aufflammt. Auch in diese Debatte ist Georges Schrift-Verwendung einzuordnen: als Form eines dritten Weges durch Rückgriff auf andere Formen von Schrift, die jenseits des zeitgenössischen Wahrnehmungshorizontes lagen. In diese Debatte, aber unter gänzlich anderen Voraussetzungen, sind auch Hybridschriften einzuordnen, die Elemente beider Formen vereinen: die Eckmann, die Neudeutsch, die Behrens-Schrift (vgl. Christopher Burke, German Hybrid Typefaces 1900-1914, in: Peter Bain, Paul Shaw [Hrsg.]: Blackletter. Type and National Identity [New York 1998], 32-39). Keine dieser Schriften, die unter »Jugendstil«/»art nouveau« geführt werden, – und dies bestätigt empirisch den Befund der inhärent kursiven Konzeption – läuft kursiv, keiner dieser Schriften wurde ursprünglich eine kursive Variante beigestellt.

George geht es in Übereinstimmung damit bei seiner Wahl einer Grotesk als Ausgangspunkt für »seine« Type um radikale Reduktion der Formensprache, ohne dies in eine ahistorische und ihrer »Wurzeln« unbewusste Typographie zu treiben. Seine Lyrik benötigt so schlicht wie programmatisch nicht mehr als ein äußerst reduziertes Lettern- und Formeninventar. Zur Auszeichnung eines Begriffes, eines Namens, eines hervorgehobenen Wortes reicht bei George ein großer Anfangsbuchstabe aus.

3.

three

Was die »St G Shrift« nicht leistet, ist eine Digitalisierung mit dem Anschein von (naturgemäß nicht erreichbarer) Authentizität. Um – sollte diese ein Kriterium sein – tatsächlich die von Stefan George veröffentlichten Bücher nach-setzen zu können, wäre eine digitale Erfassung aller historischen Varianten der gedruckten St.-G.-Schriften vonnöten. Eine umfassende Umsetzung aller Stufen wäre mit einigem Aufwand verhältnismäßig leicht herzustellen. Insbesondere mit der Möglichkeit, in OpenType verschiedene alternative Glyphensets zu definieren, könnte bspw. anhand eines Sets »Gesamt-Ausgabe (Endgültige Fassung), 1927« ein glaubwürdiges Ergebnis erzeugt werden. Das M wäre darin, und nur darin, mit den Querbalken unterhalb der Spitze des Grundstrichs zu finden usw. Die Erstellung einer solchen Schrift wäre allerdings mit einigem Mehraufwand verbunden, dem eine ganz grundsätzliche Debatte über das Projekt einer »Faksimile-Schrift« vorausgehen müsste.

Statt eines Resümees über das Kahn’sche Digitalisat seien abschließend mögliche Vorlagen ins Bild gesetzt, die aus den unterschiedlichen zugänglichen Quellen und den derzeit (digital!) verfügbaren Varianten der St.-G.-Schrift zusammengesetzt sind.

Mit dieser Auswahl sollten die Voraussetzungen gegeben sein, sich ein eigenes Bild über die Möglichkeiten – und Notwendigkeiten – von »George-Schriften« zu machen.

Georges »Stilschrift« – das »handgeschriebene Buch« zum Teppich des Lebens (George-Archiv Stuttgart)

Erstausgabe Berlin: Blätter für die Kunst 1899 – Gestaltung: Melchior Lechter

»Volksausgabe« 6. Aufl. – Berlin: Bondi 1915, selbe Typen wie 3. Aufl. 1904 (1. Ausg. in St.-G.-Schrift)

Roland Reuß’ Version im Specimen der digitalisierten St.-G.-Schrift (2003) – siehe auch die Seite zur St.-G.-Schrift

Version Colin Kahn (1994-2010) – Montage aus http://www.p22.com/typecaster/
master/caster.html

Stephan Kurz