Substanzverlust Eine Cholerik »Niemand glaubt ans Evaluieren, und alle machen mit. Niemand glaubt an Exzellenz durch Exzellenzinitiativen, und alle bewerben sich. Jeder weiß, wie tief die Krise ist, und alle sehen sich auf dem richtigen Weg.« So schrieb Jürgen Kaube in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, als er die Lage an den deutschen Universitäten in dicken Strichen auf den Punkt brachte (F.A.Z. vom 30. Juni 2006). Da man sich indessen seit langem angewöhnt hat, über solche Lagebeschreibungen achselzuckend hinwegzugehen, um in der nächsten Fensterrede dem Publikum alles bunt auszumalen, muß man sich ein paar Schwarzmaler ins Haus holen, die einem den Spaß am Bunten verderben. Diese Schwarzmaler findet man nicht in den Rängen der Entscheider, sondern dort, wo das Entschiedene exekutiert werden muß. Also in den minderen Rängen einer Verwaltung, die von oben immer schneller in Rotation versetzt wird, um durch den dabei erzeugten Rotationsschwindel so etwas wie politisch sinnvolle Aktion vorzutäuschen. Fragen wir also einen Schwarzmaler aus der Verwaltung, wie es denn um die Universitäten von Innen gesehen wirklich bestellt ist. Betrachten wir dazu das Thema der ›Anschlüsse‹, denn ohne Anschluß geht heutzutage ja nichts mehr. Der wichtigste Anschluß ist für die Universitäten der an das internationale Niveau, das man sich gerne von amerikanischen Unversitäten à la Yale, Princeton und Harvard vorgeben läßt. Da nun aber inzwischen die Spatzen von den deutschen Dächern pfeifen, daß es mit einem Schnellanschluß an diese Einrichtungen nichts werden wird, bastelt man sich allerlei Ersatzanschlüsse. Deren wichtigster ist die Umstellung der Lehre auf Fernunterricht, was man im digitalen Zeitalter dann E-Learning nennt, womit sich eine offene und irgendwie demokratische Verteilung von Wissen übers Internet suggerieren läßt. Das, meint man, ist ein Anschluß, der billig zu haben ist. Vor allem, weil man dann, dank des Internet, ohne jene Infrastruktur auskommen kann, die Universitäten so elend teuer macht. Denn teuer sind Universitäten ja nicht nur, weil sie personalintensive Einrichtungen sind, teuer sind sie auch deshalb, weil das, was früher als Bildung und heute als Information unter die Studenten gebracht werden soll, in Form von Büchern und Zeitschriften in einer Universitätsbibliothek gelagert werden muß, die pro Universität und Jahr zwischen zehn und zwanzig Millionen Euro verschlingt. Also baut man die Universitätsbibliotheken zu Knoten im digitalen Informationsnetz um, setzt auf elektronisches Publizieren und Open-Access-Initiativen, von denen man hofft, daß sie billiger sein werden als die gute alte Universitätsbibliothek. Freilich handelt man dabei wirklich nur mit Hoffnungen, die an der Realität längst zuschanden geworden sind. Das wissen aber, siehe oben, nur die Schwarzmaler in den Verwaltungen, die keiner fragt, um sich nicht unliebsam wecken lassen zu müssen. Würde man fragen, könnte man in etwa Folgendes zu hören bekommen. Der digitale Umbau der Universitätsbibliotheken wird inzwischen seit mehr als dreißig Jahren betrieben. Zunächst brachte man die Zettelkataloge in Datenbanken und stellte sie dem Publikum zur Verfügung, anfangs nur lokal, später dann über regionale Datennetze, inzwischen weltweit übers Internet. Dann kaufte man große bibliographische Datenbanken dazu, die ebenfalls übers Internet zur Verfügung gestellt werden. Und inzwischen meint man, daß alles, auch die Bücher, auch die Zeitschriften, elektronisch zur Verfügung stehen sollte. Tatsächlich ist es so, daß in den teuren und schicken technischen Disziplinen, in den Naturwissenschaften und der Medizin — den sog. STM-Fächern — vieles von dem, was dort publiziert wird, Mitteilungscharakter hat, der dem Aktualitätscharakter von Zeitungen entspricht: Was heute veröffentlicht wird, ist morgen die Verpackung für stinkenden Fisch. Da man damit aber viel Geld verdienen kann und da die Politik sich davon Innovationen und Arbeitsplätze verspricht, ist man bereit, das Spiel mitzuspielen und immer stärkeren Spezialisierungsbestrebungen nachzugeben, für die dann immer stärker spezialisierte Publikationsmedien bereitgestellt werden müssen. Die Endstufe dieser Spezialisierung ist das Spezialorgan für eine Handvoll Spezialwissenschaftler, die über die Welt verteilt hochspeziell und vielleicht auch hochinnovativ arbeiten. Daß das nicht mehr im Printmedium abzubilden ist, leuchtet ein, so daß sich niemand wundert, daß man in solchen hochspezialisierten Kreisen längst per E-Mail kommuniziert und sich die forschungsrelevanten Mitteilungen und Entdeckungen über Pre-Print-Server zukommen läßt. Das Problem ist freilich, daß dieses Modell erstens nur ein kleines Segment von Wissenschaft abbildet und zweitens nicht einmal billiger ist als die gute alte Methode, seine Forschungsergebnisse in einer Zeitschrift aus Papier oder als Buch zu veröffentlichen. Es ist nur schneller. Zum ersten. Auch wenn die STM-Fächer immer schneller rotieren, um innovativ am Ball bleiben zu können, gilt das Prinzip der Forschungs- und Publikationsbeschleunigung, bei der immer größere Arbeitsgruppen immer weniger Text produzieren, den aber immer schneller und öfter, durchaus nur für diese Fächer. Cum grano salis. Denn immer noch ist es so, daß das Lebenswerk eines Geisteswissenschaftlers dann doch eher das solide gedachte Buch sein soll, das man in hundert Jahren noch liest. Die Sozialwissenschaftler schwanken zwar, ob sie zur Partei der Beschleuniger oder Verzögerer gehören wollen, aber das Schwanken alleine genügt, um festzuhalten: Was den STM-Fächern nützt, muß anderen noch lang nicht frommen. Mithin wäre eine Umstellung des gesamten Wissenschaftsbereiches auf die in den STM-Fächern übliche Beschleunigung insgesamt gar keine Wissenschaftsverbesserung, sondern eine Wissenschaftsverschlimmbesserung. Das mag man für vertretbar halten, weil es auf die schönen Fächer des Geistes und des Sozialen eh nicht mehr ankommt, aber dann sollte man das auch sagen. Zum zweiten. Man kann auf der Ebene der Schwarzmaler reden, mit wem man will, man wird immer dasselbe hören: Die wahren Kosten für Veröffentlichungen liegen auf der Personalseite, also bei denen, die das Geschriebene erdacht und geschrieben und lektoriert haben. Die Frage, ob irgendetwas auf Papier oder elektronisch veröffentlicht wird, ist für die Kosten- und damit Preiskalkulation unerheblich. Und auf der Seite der Bibliotheken, also der Lagerstätten für Publiziertes, haben sich sämtliche Hoffnungen, die Speicherung von Digitalem sei billiger als die Lagerung von Büchern und Zeitschriften aus Papier, längst als falsch herausgestellt. Ganz im Gegenteil hat sich seit dem Aufkommen des Digitalen in den Bibliotheken die Kostenspirale nach oben munter weitergedreht und beschleunigt. Nun hat man sich aber seit dreißig Jahren in den Führungsebenen der Bibliotheken diskussionslos darauf versteift, daß der Ausbau des Digitalen — und nur dieser — Zukunft verspricht, während alles andere folglich als unnötiger Vergangenheitsballast gilt. Die Wissenschaftler, von denen man in den Bibliotheken als ›Kunden‹ spricht, haben ihren Bibliothekskontakt zumeist auf Assistenten und Hilfskräfte ausgelagert und sind in Bibliotheksdingen folglich ahnungslos, lassen sich aber im übrigen gerne davon überzeugen, daß nur die digitale Umstellung der Bibliotheken Zukunft verspricht, weil dann ihr sporadischer Bibliothekskontakt zukunftstechnisch sanktioniert wäre: Wer bisher schon nicht in eine Bibliothek kam, muß das auch in Zukunft nicht, braucht dann aber wenigstens kein schlechtes Gewissen mehr zu haben. Kurz: Alle Beteiligten sind's zufrieden, daß es mit der digitalen Umstellung der Bibliotheken weitergeht, auch wenn man wissen könnte, daß ebendiese digitale Umstellung gar kein Ausbau der Bibliotheken ist, sondern ein Abbau. Der wird freilich nach dem Rezept betrieben, daß sich die Digitalisierung schon noch rentieren wird, dereinst einmal, vielleicht, so daß man aus diesem Prinzip Hoffnung heraus jetzt schon mit der Reduktion der Bibliothekskosten beginnen kann, indem man die Anschaffungsetats fürs konventionelle Buch und die konventionelle Fachzeitschrift herunterfährt. Was jedem unbedarften Grübler sofort als Abbau in die Augen fällt, ist in der Perspektive des Prinzips Hoffnung allerdings Arbeit an der besseren Zukunft und folglich Aufbau einer Bibliothek, die ohne all den papierenen Ballast der Vergangenheit so etwas wie eine kostenminimale Einrichtung reinsten Nutzens wäre. Das wäre sie natürlich nicht mehr als Bibliothek bekannten Typs, sondern als irgendwie innovativer Informationsdienstleistungsknoten im Internet. Gegen diesen Geniestreich, Abbau als Aufbau zu verkaufen, ist kein Kraut gewachsen, wie es scheint. Nur der Schwarzmaler schaut heimlich in seine Statistik und stellt fest, daß die deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken im Jahre 1999 insgesamt über 226 Millionen Euro in ihren Erwerbungsetats verfügen konnten und daß dieser Betrag bis zum Jahr 2003 auf 241 Millionen Euro angehoben wurde. Dieser Anstieg von 15 Millionen Euro über einen Zeitraum von fünf Jahren bedeutet in Wahrheit einen Abstieg, wie der Schwarzmaler weiß, denn jedes Jahr verteuern sich die Bücher und Zeitschriften um durchschnittlich sieben Prozent. Um also im Jahr 2003 dieselbe Menge von Büchern und Zeitschriften wie im Jahr 1999 kaufen zu können, hätten die Bibliotheken über 296 Millionen Euro verfügen müssen. Da sie aber nur über 241 Millionen Euro verfügen konnten, beträgt die zwischen 1999 und 2003 aufgelaufene Unterfinanzierung 55 Millionen Euro. Ein wenig anders gerechnet: Trotz des nominellen Anstiegs der Anschaffungsetats ging das Kaufkraftvolumen der deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken zwischen 1999 und 2003 um etwa 18 Prozent zurück. Der Schwarzmaler schaut erneut in seine Statistik und liest darin, daß die deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken von 1999 bis zum Jahre 2003 insgesamt 11,5 Millionen Bücher entsorgt haben. Das entspricht in fünf Friedensjahren etwa dem halben Kriegsverlust der Jahre 1939 bis 1945. Der Schwarzmaler schließt seine Statistik und stellt fest, daß in der Tat noch nie soviel Innovation im Bibliothekswesen war. Der Wissenschaftsstandort Deutschland darf sich auf etwas gefaßt machen.
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