Ohne Willkür

Es gibt verschiedene Gründe, sich mit den Drucken zu beschäftigen, die Aldus Manutius (1449-1515) im letzten Viertel seines Lebens in Venedig publizierte. Man kann sich ihnen zuwenden als epochalen historischen Zeugnissen der Renaissance-Gelehrsamkeit und dabei den sozialen und wirtschaftlichen Kontext studieren, aus dem sie hervorgingen. Die 43 Titel seiner 32-zeiligen Oktav-Klassiker, die ab 1501 erschienen, waren der Prototyp jener Art von handlichem Buch (enchiridion), das als Träger eines »Lesetextes« (editio minor) das Studium der alten Schriften revolutionieren sollte. Heutige Taschenbücher wären ohne dieses Paradigma nicht denkbar.

Ausgebildet als Philologe und Grammatiker und selbst als Schriftsteller hervorgetreten, wurde Aldus beim Aufbau seiner Druckerei möglicherweise direkt von Pico della Mirandola gefördert. 1490 war er, schon über vierzig, zum Erlernen der Druckkunst nach Venedig gezogen. 1495 erschien der erste Druck aus seiner Presse, bezeichnenderweise eine Grammatik, die griechischen »Erotemata« des Konstantinos Laskaris (1434-1501). Er wartete erstmals mit einer eigenen griechischen Druckschrift im lateinischen Kontext auf, nachdem voraufliegende Frühdrucke Passagen mit griechischer Schrift, analog der Behandlung der Initialen, zur nachträglichen Weiterbearbeitung hatten unbedruckt lassen müssen. Der Charakter der griechischen Lettern hielt sich eng an das Vorbild: stilus auf Wachstafel, und kontrastierte auf diese Weise (einheitliche Strichstärke durch die ganze Bewegung) merklich mit der lateinischen Antiqua, deren Konstruktion sich bekanntlich aus den Strichen der Breitfeder herleitet. Der Ruhm dieser Aldinischen Druckerzeugnisse verbreitete sich rasch in der wissenschaftlichen Welt. Ein Mann wie Erasmus war von der Qualität der Bücher derart beeindruckt, daß er sich selbst nach Venedig begab, um Manutius zu konsultieren.

Neben das historische Interesse an den Kontexten und Entstehungsbedingungen der Renaissance-Drucke tritt als weiteres Motiv, sich mit den Büchern des Manutius zu beschäftigen, das ästhetische. Lange Zeit hat es sich konzentriert auf die Analyse der Typen, die Aldus von dem Bologneser Schriftentwerfer und Stempelschneider Francesco Griffo (um 1450-1518) hatte herstellen lassen (zu Griffo vgl. Giovanni Mardersteig, Aldo Manuzio e i caratteri di Francesco Griffo da Bologna, in: ders., Scritti sulla storia die caratteri e della tipografia [Mailand 1988], 107-158). Ob dessen Schriftdesign oder die zeitgenössischen venezianischen Vorgaben des kurz zuvor am selben Ort druckenden Franzosen Nicolas Jenson (1420-1480) vorzuziehen seien, wurde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhundert zwischen Updike, Morison und anderen Typographen vor dem Hintergrund der Wiederbelebung alter Schriften für den Maschinensatz kontrovers diskutiert. Wahrscheinlich war es die zu Widerspruch herausfordernde Gestalt William Morris’, die diese z. T. hitzige Debatte entfachte. Morris hatte sich bei der Konzeption seiner »Golden Type« stark an Jensons Letterformen orientiert und diese mit einigem Aplomb als allein maßgeblich proklamiert. Das rief vor allem den Widerspruch Stanley Morisons hervor. Seine Präferenz für die Griffoschen Schnitte machte das systematische Argument geltend, daß der in der lateinischen Schrift vorhandene Konflikt zweier von der Konstruktion her divergierender Schriftsysteme (Majuskeln, sich herleitend aus der Inschrift, versus Minuskeln, aus der Handschrift entwickelt) bei Griffo besser vermittelt scheint: Die Figuren der Versalien sind in der Strichstärke etwas zurückgenommen, und die Oberlängen der Kleinbuchstaben ragen über sie merklicher hinaus als in den vergleichbaren Lettern der Drucke Jensons (vgl. Nicolas Barker, Stanley Morison [London 1972], 140). Interessanterweise zählte für Morison zu den Vorzügen dieser Konstruktion auch, daß in ihnen der Stempelschneider und Graveur als Handwerker sich gegenüber der kalligraphischen Stilisierung der Jensonschen Lettern durchgesetzt hatte (ebd., 279).

Abb. 1: Monotype Bembo (Beispiel)

Abb.1: Monotype Bembo. Grundlage der von Stanley Morison im Auftrag der Monotype Corporation produzierten Schrift war die Type, die Manutius für das Buch des Kardinals Pietro Bembo »Über den Ätna« verwendete (De aetna, gedruckt 1496). Morison hatte zuvor schon, ebenfalls für die Monotype Corp., die Schrift von Colonnas »Hypnerotomachia Poliphili« (1499), dem berühmtesten Buch der Aldinischen Presse, anfertigen lassen, war mit dieser Poliphilus allerdings nicht zufrieden gewesen.

Diese Debatte über die Gestalt der Lettern ist heute mehr oder weniger zugunsten Morisons entschieden. Wer sich die Jenson (Adobe) oder die Centaur Bruce Rogers’ als digitale Schrift kauft und näher in einem Schriftbearbeitungsprogramm anschaut, wird schnell sehen, daß die Urbilder hier gleichsam aus Aldinischer Perspektive reinterpretiert worden sind. Was an Stelle der Diskussion über die Gestalt der Buchstaben neuerdings in den Mittelpunkt des Interesses rückt, sind die komplexen Bezüge von Mikro- und Makrostruktur der Aldinischen Buchkomposition.

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»The arbitrary is minimized.« (Anthony Froshaug) – Mit dem Buch Peter Burnhills

Type spaces. In-house norms in the typography of Aldus Manutius (London: Hyphen Press, 2003)

liegt nun eine in vielfacher Hinsicht exzellierende Studie vor, die sich erstmals detailliert dem metrischen Aufbau der Aldinischen Drucke in seiner Gesamtheit widmet. Die Gestalt der Lettern ist dabei nur noch ein funktionales Moment unter anderen, unterworfen einer durchgängigen Vermittlung aller die Druckseite bestimmenden Elemente. Ein Meisterstück von »reverse engineering« (101), löst Burnhills Rekonstruktion die pointierte Forderung Anthony Froshaugs ein: »When all the imposed and self-imposed constraints […] interact and reinforce each other, the consequent design only synthesizes analytics; the arbitrary is minimized.« (Typographic norms [1964], in: Robin Kinross [Hrsg.], Anthony Froshaug. 2 Bde. I: Typography & texts. II: Documents [London 2000], I 179-182; hier 180) Man kann sagen: Burnhill analysiert auf originelle Weise in genauem Gegen-Sinn, der Gegenrichtung, die aldinischen Synthesen.

Unter explizitem Rückgriff auf die Fragerichtung Froshaugs – Froshaug (1920-1984), als Designer einer der interessantesten Köpfe des zwanzigsten Jahrhunderts, ist in Deutschland, wenn überhaupt, so vor allem durch seine zeitweilige Lehrtätigkeit an der Ulmer Hochschule für Gestaltung bekannt – umschreibt Burnhill das Grundproblem der Aldinischen Buchproduktion als die Spannung zwischen der Bedeutung eines Textes und ihrer Darstellung im Medium des Drucks: »Here is a point of tension between the meaning of a text and the technology of its realization: a long-running point of possible difference between editors and typographers, concerned with the linguistic structure of a text, and printers concerned with the mechanics of its production.« (26; vgl. 124) Daß sich dieses Problem gerade bei Manutius zuspitzt, ist kein Wunder: Drucker und Schriftsteller trafen hier für einmal in einer Person zusammen, und es spannte sich ein experimentelles Kraftfeld auf, in dem, kühn, so gut wie alles an Satzformen ausprobiert wurde, was als Gestaltungsmöglichkeit die folgenden 500 Jahre Buchdruck bestimmen sollte.

Die selbstgestellte und von Druckern vor ihm nie gelöste Aufgabe, die differenten griechischen und lateinischen Schriften auf eine Grundlinie zu setzen, konnte mittels der frei einstellbaren Handgießmaschine erstmals bewältigt werden (zu diesem Apparat, von dem heute fast niemand mehr weiß, wie er ausgesehen hat, vgl. Harry Carter, A View of Early Typography. Repr. with an introduction by James Mosley [London 2002], 7f.). Manutius – so Burnhill – führte eine elementare Einheit ein, mit deren Hilfe sowohl alle vertikalen (Zeilenhöhe, x-Höhe) als auch alle horizontalen Relationen (Zeilenlänge, Wortabstände) auf der Seite bestimmt und koordiniert werden konnten (Froshaugs Aufsatz Typography is a grid scheint Burnhill in der Fragerichtung stark beeinflußt zu haben; a.a.O., I 187-190). Diese Mikroeinheit – Burnhill spricht von ihr als von dem »sub-modularen« Element – macht bei Manutius der zwölfte Teil eines Gevierts aus: »the sub-modular twelfth of the Aldine system was used as the basic unit of measurement for gauging intervals on both axes of the page of less than em quadrat/type size, including character image sizes, and not simply as a word space or a component of word spaces.« (35) Die Rede von ›in-house norms‹, deren Formulierung durch den Bezug auf diese submodulare Einheit möglich wird, ist natürlich eine post-factum Idealisierung; gleichwohl wird durch Burnhills Arbeit wahrscheinlich, daß die officina ihre Produktion in der Tat auf ein relativ klares Ensemble einfacher Regeln, rückgebunden an eine elementare Grundeinheit, gründen konnte. Das Schlegel-Schleiermachersche Aperçu, Behaupten sei in manchen Fällen mehr als Beweisen, erfährt hier eines seiner glänzendsten Anwendungen. Die Burnhillsche These ermöglicht eine Menge von Detailbeobachtungen, die sich ohne sie nicht ergeben würden (vgl. auch die Diskussion der vorab vorgestellten These Burnhills in den Typography papers 4 [2000], 92-133).

Mit einer Fülle von Material dokumentiert Burnhill die zunehmende Virtuosität, die Manutius’ elementare typographische Praxis auszeichnet – auch als es schon längst nicht mehr nur darum ging, griechische Schrift in lateinischen Kontext zu integrieren. Das Verfahren, das Burnhill anwendet, ist so einfach wie elegant. Er bedient sich exemplarischer Vergrößerungen (in der Regel 400%, manchmal auch 800%) und unterlegt diese mit einem Raster, das auf dem submodularen Zwölftelgeviert basiert. Die handschriftlich annotierten Werkzeichnungen, die hierdurch entstehen sind für sich bereits so schön, daß man neidisch werden kann. Durch sie werden die Aldinischen Drucke in jenem präzisen Sinn dargestellt, in dem Chemiker davon sprechen, daß sie eine Substanz ›darstellen‹.

Abb. 2: Ovid, Metamorphoses (1502), 8vo, sig. D1v-D2. Cf. Burnhill, 98.

Abb. 3: Detailvergrößerung aus D2, 400%. Das Zwölftelgeviert reguliert metrisch sowohl den vertikalen als auch den horizontalen Raum. Cf. Burnhill, 99.

Mit Händen zu greifen ist, daß die Metrik der Seiten wohlüberlegt und gleichsam auf dem Gedanken absoluter Vermittlung (im Hegelschen Sinne) aufgebaut ist. Vielleicht die wichtigste Pointe des Buches: Gerade die Reduktion auf die Verwendung einer einzigen materialen Konstante für alle konstruktiven Entscheidungen ist es, die die große Variabilität und zugleich Einheitlichkeit der Aldinischen Produktion ermöglicht hat. Der Überbau der Seitenkonstruktion geht aus den Eigentümlichkeiten des herstellenden Werkzeugs selbst hervor, nicht wird er äußerlich übergestülpt: »the control system which makes the reading process possible was an attribute of the production system, not imported or superimposed.« (124)

Wer dazu neigt, die Befunde Burnhills als ›überinterpretiert‹ zurückzuweisen (der übliche Einwand, wenn einer einmal gründlich nachgedacht hat und das Publikum beschämt ist), sei darauf hingewiesen, daß die genaue Planung des Seitenaufbaus bereits eines der auffälligsten Charakteristika mittelalterlicher Handschriften ausmacht (die Rasterlinien sind meist noch gut zu erkennen). Und bis in heutige Anleitungen zum kalligraphischen Schreiben hat sich der auch damals schon tradierte Rat erhalten, als ›submodulare‹ Einheit sowohl für die Buchstabenhöhe als auch den Zeilenabstand das Quadrat der Strichstärke anzusetzen, die Dimensionierung der Extensionen also direkt aus dem Mittel der Produktion selbst herauszuentwickeln.

Abb. 4: Ann Camp, Pen lettering (6. Aufl. London 1984), 48. Die vor der Zeile viermal übereinander gesetzten Quadrate aus der Grundstrichstärke geben das Maß für die x-Höhe.

Es ist Burnhills Buch zu wünschen, daß es über den engeren Kreis historisch Interessierter auch in der Welt der Buchgestalter seine anregende Wirkung entfaltet. Daß seine eigene Herstellung (Papier, Bindung, Seitenaufbau) den Vergleich mit dem behandelten Gegenstand nicht zu scheuen braucht, ist nicht das geringste Lob, das man ihm zollen kann – und ein schönes Beispiel dafür, daß Schreiben über Typographie immer eine Übung in Selbstreflexion ist.

Abb. 5: Ovid, Metamorphoses (1502), 8vo, sig. A3v-A4. Die Seiten sind satztechnisch reich gegliedert, zweispaltiger und einspaltiger Satz wechseln sich ab. Überschriften sind nicht zentriert. Cf. Burnhill, 102f.

Abb. 6: Das Grundraster, abgeleitet aus der oben abgebildeten Seite, gibt gleichsam eine Röntgenaufnahme des Skeletts der Oktavos.

Die kristalline Klarheit, die einem aus der Aldinischen Produktion entgegentritt, ist in der Burnhillschen Rekonstruktion zu sich selbst gekommen.

rr, 22. 5. 2004

 

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