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Z E I T, 27.1.2007 Der wahre Kafka
Vor sechs Jahren rief die Bundesregierung die Kurt-Wolff-Stiftung ins Leben. Sie soll die selbstlose Arbeit jener kleinen Verlage unterstützen, die wie einst ihr Namensgeber, der ursprüngliche Verleger Franz Kafkas, die Vielfalt der Literatur im Land möglich machen. Auch Suhrkamp, Fischer oder Rowohlt waren einmal »Kleinverlage« - und werden es vielleicht irgendwann wieder sein. Jährlich vergibt die Stiftung ein Preisgeld in Höhe von 26 000 Euro und einen Förderpreis (5000 Euro) für Einzelprojekte. Der Zufall und die Stiftungsjuroren wollten es, dass auf der Leipziger Buchmesse in diesem März ein anderer Wolff mit dem Kurt-Wolff-Preis ausgezeichnet wird. Er ist der Leiter des Frankfurter Verlags Stroemfeld, einer editorischen Manufaktur, deren penible Arbeit mit und an den Urtexten ausgewählter deutschsprachiger Dichter die akademische Germanistik erst ärgerte, inzwischen jedoch überzeugt hat. Stroemfelds historisch-kritische Klassikerausgaben haben einen Standard gesetzt, der in aller Welt seinesgleichen sucht. Seit seinen politisch, nun, lebhaften SDS-Tagen der späten sechziger Jahre haftet Wolff das Vornamenskürzel KD an, wie »Kampf dem ...«. Seine verlegerische Reise aus den antibürgerlichen, wenn nicht geist-, so doch toleranzfreien Zonen des Marxismus-Maoismus ins Zentrum großbürgerlichen Bildungsguts, in die Welt von Kleist, Hölderlin, der Günderrode oder Keller, gehört zu den schönsten Anstrengungen eines inzwischen heiter gewordenen, immer noch antiautoritären Geistes. Ihn interessieren weiterhin »die Produktionsbedingungen« - nun allerdings die traditionellen des Verlagsgeschäfts. Sie versperren bisweilen aus kalkulatorischen Gründen den Zugang zum wahren Kern mancher Werke. Gesamtausgaben, die sich als lauter letzte Worte eines Dichters ausgeben, können es nicht immer sein; das fertige Buch ist nicht immer das wahre; denn Verlegerei ist ein finanziell heikles Geschäft, und nur selten ist es identisch mit den Wünschen der Autoren. Mancher Dichter kennt die Bitte seines seufzenden Verlegers: »Wären Sie so nett und streichen die Hälfte?« Thomas Mann ging es so mit den Buddenbrooks; er weigerte sich. Doch was, wenn die Hälfte eines Manuskripts vom Schriftsteller selbst gestrichen worden ist, weil er seinen eigenen Worten nicht traute?? Dichtung ist ein geistiger Prozess vor weißem Papier, ist Suchen, Finden, Ausprobieren und Verwerfen von Worten und Sätzen. Abzubilden, was der Dichter wirklich sagte, was er dachte im Augenblick der Niederschrift — das ist das verlegerische Leitmotiv Wolffs. Es betrifft, wie anders, den richtigen Umgang mit Nachlässen jener großen Autoren, die noch - wie Kafka — mit Bleistift oder Feder schrieben. KD Wolff ist ein Verleger Franz Kafkas — wenn auch erst seit Januar 1995, dem Monat, in dem die Urheberrechte des , jüdischen Dichters deutscher Sprache frei wurden. Um Kafkas Werk hatte sich seit den sechziger Jahren eine veritable Dissertations-industrie entwickelt: Es gab so viel zu interpretieren, weil so vieles um seine Texte im Dunkeln lag. Der akademische Kafka-Betrieb drohte schließlich das Gesamtwerk zuzudecken mit geradezu erschöpfender, andächtiger Bewunderung. Ginge es nach der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), blieben Kafkas Schriften auch weiterhin im Helldunkel der bisherigen Ausgaben stecken. Am 4. Oktober 2006 hatte die Bundesbehörde den Antrag des Heidelberger Privatdozenten Roland Reuß auf Gewährung einer Förderung von 69 500 Euro abgewiesen, mit denen die Stelle eines wissenschaftlichen Mitarbeiters zunächst einmal für ein Jahr gesichert werden sollte. Das kleine Team plante, sämtliche Handschriften Kafkas in Faksimiles wiederzugeben — und, darin liegt die eigentliche Arbeit, mit einer zeichen-, zeilen- und seitengetreuen Umschrift bei Stroemfeld in dreißig Bänden zu publizieren. Fünf liegen bereits vor — ohne staatliche Förderung veröffentlicht. Die Ablehnung der DFG ist ein Skandal. Jeder einzelne der fünf Bände ist ein editorisches und herstellerisches Wunderwerk. Wer die faksimilierten Seiten von Im Dom studiert, einem Kapitel aus Kafkas Process, entdeckt eine elegante, fast weibliche Handschrift, ja Prager Jugendstil in den schwung- und lustvollen Bögen der Stahlfeder des Dichters — und jede Menge Streichungen, Ergänzungen, stilistischer Unfertigkeiten, kurzum: Wer diese Seiten nicht nur mit akademisch-editorischem Interesse liest, sondern auch mit der etwas schamlosen Neugier eines ungebetenen Besuchers, der dem Dichter beim Intimsten über die Schulter schaut, beim Schrift gewordenen Denken, der wird nicht auf die banale Behauptung der DFG verfallen, der »günstigenfalls zu erwartende zusätzliche Erkenntnisgewinn« einer Faksimile-Edition sei zu gering. Die Sprache der Börse hat offenbar die Abteilung Geistes- und Sozialwissenschaften der DFG erreicht. Wer die Faksimiles liest, kassiert keine intellektuellen Dividenden, sondern erfährt eine außerordentliche Annäherung an den Moment dichterischer Schöpfung — vergleichbar den hermeneutischen Glücksgefühlen von Übersetzern. Für Gefühle, gewiss, ist die DFG nicht zuständig. Für Zusatzgewinne aber auch nicht. Ein anderes Urteil war freilich kaum zu erwarten; denn über ein Jahrzehnt lang hatte die DFG die Kafka-Ausgabe des S. Fischer Verlags gefördert. Sie ist zwar international anerkannt, folgt aber einer Methodik, die angesichts der fotografisch gesicherten Sachlage inzwischen überholt ist. Einen anderen, unübertrefflich authentischen Kafka zu lesen, dessen faksimiliert vorgestelltes, experimentelles Schreiben nicht dem linearen Duktus der Fischer-Ausgabe entspricht — das interessierte die anonymen Gutachter der DFG nicht. Sie wissen schon alles. Ihre lapidare Ablehnung des Stroemfeld-Projekts erntete inzwischen hundertfachen Hohn und Spott von international fuhrenden Kafka-Experten und Germanisten in aller Welt - aber auch von Schriftstellern wie Elfriede Jelinek, J. M. Coetzee, Louis Begley und vielen anderen. »Es wäre eine wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Katastrophe, wenn es bei der ablehnenden Entscheidung der DFG bliebe«, heißt es in dem Protestbrief der akademischen Germanisten-Elite zwischen Melbourne, Zürich, Berlin, New York und Chicago. Zu den Unterzeichnern zählt Wolf Kittler, einer der Mitherausgeber der Kafka-Ausgabe im S. Fischer Verlag. Stroemfelds Kafka-Edition sei »die Grundlage jeder künftigen Erforschung dieser einzigartigen Dichtung in deutscher Sprache«. Die DFG ist über die Unterschriftenaktion empört. Sie findet sie stillos und ungezogen. Damit gleicht die Behörde in ihrer Unnahbarkeit den traurig-komischen Einfallen Franz Kafkas – die lediglich vom Schicksal seiner Schriften selbst überboten wurden. Und es ist zumal dieses Schicksal der losen Seiten, das nach einer Faksimile-Ausgabe verlangt. Erst dann hätten wir den »wahren Franz Kafka«. Fünfzehn Jahre nach seinem Tod 1924 war sein Prager Freund Max Brod dem Zugriff der Gestapo knapp entkommen; über Rumänien führte die Flucht nach Palästina. Der Bitte Kafkas, seinen schriftlichen Nachlass ungelesen zu verbrennen, kam Brod nicht nach. Mit einem Koffer voller Dichtung rettete er sich und ein großes Werk vor dem deutschen Mordgesindel. Dass diese Texte dann Einblicke in die totalstaatliche Gesinnungshöllen des 20. Jahrhunderts gewähren sollten, zählt zu den großen Ironien der Literaturgeschichte. Kafka hatte zu Lebzeiten sieben schmale Bände publiziert, sie allein wollte er, von Selbstzweifeln gequält, als literarisches Erbe gelten lassen. Ihr hintergründiger Humor überwältigte ihn gelegentlich bei Lesungen - vor lauter Lachen musste er manchmal seinen Vortrag abbrechen. Seine eigentliche Präsentation als Dichter aller modernen Ängste, als Prophet bürokratischer Torturen und horribler Metamorphosen – genauer, die Erfindung des weltweit erfolgreichen Romanautors ist.das editorisch freizügige Werk Max Brods. In Wirklichkeit hatte Kafka keinen einzigen Roman abgeschlossen. Das Schloss, Der Process – es handelt sich um Fragmentkompilationen aus dem Brod-Lektorat. Erst nachdem Kafkas Erben den handschriftlichen
Nachlass der Bodleian Library in Oxford überlassen hatten, konnte KD
Wolffs Idee einer »editionsunabhängigen« (soll heißen: Brod-freien)
Kafka-Ausgabe in Angriff genommen werden. Die Krupp-Stiftung finanzierte
die fotografische Reproduktion der Manuskripte. Würde das Projekt dank
der Zuwendungsrituale der DFG untergehen, wären die Kosten abzuschreiben.
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