BKA I/1
Die Familie Schroffenstein
Hrsg. von Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle

560 Seiten, ca. 200 Seiten Faksimiles, geb. im Schuber mit BKB (Brandenburger Kleist-Blätter) 15

Als Buch eines Anonymus erschien Ende November 1802, fast zwei Monate nach Kleists überstürzter Abreise aus der Schweiz, bei Heinrich Geßner in Zürich ›Die Familie Schroffenstein. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen‹. Die zeitgenössische Kritik zeigte sich angetan, teils gar begeistert. Der erste Rezensent feierte das Stück als »Wiege des Genies« und verkündete dem Publikum »die Erscheinung eines neuen Dichters, eines unbekannten und ungenannten, aber wirklich eines Dichters«. Kleist hingegen äußerte sich eher reserviert. »Thut mir den Gefallen«, schrieb er an seine Familie, »u. leset das Buch nicht. Ich bitte euch darum. Es ist eine elende Scharteke Kurz, thut es nicht. Hört ihr?«

Zu Kleists erstem Drama ist ein Materialkomplex überliefert, dem neben dem Erstdruck ein handschriftliches Szenarium mit dem Titel ›Die Familie Thierrez‹ und das mehrfach überarbeitete Manuskript ›Die Familie Ghonorez‹ angehören – das autographe Korpus befindet sich heute in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin.

Der Textband der BKA umfaßt:

– Kleists eigenhändige Manuskripte ›Die Familie Thierrez‹ und ›Die Familie Ghonorez‹ vollständig in Faksimiles mit diplomatischer Umschrift

– die kritische Edition von ›Die Familie Schroffenstein‹ nach dem Text des Erstdrucks

– einen Herausgeberbericht, der u.a. die Überlieferungswege des edierten Materials darlegt und dessen interne Bezüge rekonstruiert.

Die Brandenburger Kleist-Blätter (BKB) 15 enthalten eine Interpretation der edierten Texte, eine umfangreiche Sammlung von Zeugnissen zur Überlieferung von Kleisthandschriften sowie einige bisher unbekannte Dokumente zu Kleists Leben und Werk.

Kleists erstes Drama, wenngleich als Dichtung mißglückt, ist vielleicht dennoch die kühnste seiner tragischen Konzeptionen. […] Einzig in der ›Penthesilea‹ hat Kleist der Unerbittlichkeit seiner frühen Gedanken die Treue gehalten. […] Eines ihrer Grundthemen hat ›Die Familie Schroffenstein‹ mit ›Romeo und Julia‹ gemein, dessen Dichter als Kleists Vorbild gilt: die Liebe zwischen Kindern verfeindeter Eltern. Die tragische Einheit von Feindschaft und Liebe: daß die Liebenden als Kinder ihrer Eltern sich hassen müssen, bestimmt beide Werke. Aber schon in diesem Ansatz geht Kleist an tragischer Schärfe über Shakespeare hinaus, indem er an die Stelle der beiden verfeindeten Familien zwei Stämme einer einzigen setzt, die Häuser Rossitz und Warwand. Die Zwietracht hat so in ihrem Ursprung die Eintracht.
Peter Szondi, ›Versuch über das Tragische‹, 1964