Briefwechsel 219. Leipzig, den 13. Januar 1823. Hinfort also werden Sie, mein theuerster Freund, keiner Ansicht von Ihrem Gesundheitszustande, als der meinigen, Raum geben. Ich habe eben mit großem Vergnügen Ihren Brief aus Lambach gelesen. Ihr körperliches Verhalten auf der Reise zeigt am besten, daß Ihre Besserung nicht bloß in der Geschäftsexaltation oder in psychischen Reizen ihren Grund hatte, sondern daß Ihr physique noch seine vollständige Elasticität behauptet. Ihr Uebel selbst liegt in einigen jugendlichen Excessen, die <372:> aber erst durch die daran geknüpften Arzneikrankheiten bedeutend und nachhaltig geworden sind. Also bitte ich nur um das Eine: thun Sie ein förmliches Gelübde, niemals anders als in den Hahnemannschen Portionen irgend ein Arzneimittel zu berühren. Wir sehen täglich Wunder der unendlich kleinen Gaben, und andererseits die schrecklichsten und augenscheinlichsten Vergiftungen der alten Medicin. Sie können denken, wie interessant mir jedes Wort Ihres Briefes gewesen ist. Ich komme mir auch – um mich eines guten Witzes Bignons über Lord Castlereagh zu bedienen – wie eine Art von correspondirendem Mitgliede der heiligen Allianz vor, und da ich nun gewohnt und am meisten geneigt bin, alles, was mir von dem inneren Gange der großen Weltbegebenheiten bekannt werden soll, von Ihnen zu empfangen, so belebt ein solches Schreiben, wie das heute empfangene, ich möchte sagen, alle meine praktischen Muskeln, während alle Débats und französischen und englischen Couriere (meine gewöhnlichen Quellen) nur meine rhetorische Ader schlagen, die dann in meinem Leipziger Salon vor einigen gutmüthigen Jüngern, aber ohne weitere Wirkung, verfließt und versiegt. In Verona hat es offenbar nur an großen incitirenden und elektrisirenden Begebenheiten (Königsmorden, neuen Militärrevolutionen u.s.f.) gefehlt, um das Werk des Fürsten noch augenscheinlicher weiter zu fördern. Indeß ist die Nüance der couleur Villèle und der couleur Montmerency doch eigentlich nur für ganz scharfe royalistische Augen vorhanden, und durch die augenblickliche Differenz der praktischen Resultate soll der Teufel hoffentlich keinen Vorschub gewinnen. Gewiß ist, daß die Cirkularnote eine große Wirkung, selbst in Norddeutschland gemacht. Aus Göttingen schreibt man mir: diese Uebereinstimmung in allen, selbst der griechischen Sache, übersteige alle Erwartung. Es thut mir leid, mich über die unvergleichliche Fassung schon einmal gegen Sie ausgelassen zu haben, sonst würde ich Ihnen eine ganze Abhandlung über die Vorzüge dieser Arbeit vorlegen. Ein unschätzbarer Nebenumstand war, daß die Räumung der italienischen Königreiche von allen Gegnern – nicht bloß von Bignon – im voraus als eine politische Unmöglichkeit verläugnet worden war. Englands und der außereuropäischen Angelegenheiten erwähne ich dießmal nicht. Ich hätte zu viel mit Ihnen zu rechten, da eine niederschlagende Stelle Ihres Briefes meine (Geld-) Meditationen – denn <373:> nur diese können Sie meinen – doch für „gar zu entfernt von unsern gegenwärtigen Bedürfnissen“ erklärt! Liebster Freund, ist es nicht gut, daß einer von uns dieses große Objekt unausgesetzt im Auge behält; dieses europäische Geldwesen, aus welchem aller Repräsentations- und Balancirungsunsinn der neueren Politik, erst die balance des puissances, das équlibre de l’Europe, dann die balance des pouvoirs, und die ganze große Gefahr der Sache Gottes und aller wahrhaften, persönlichen Autoritäten hervorgegangen? Ein Weltall, wie das der Atheisten und der Naturphilosophen, ein Staatensystem, wie das des Gleichgewichts von Europa, eine Arbeits- und Produktenbalance, wie die des Adam Smith, ein inneres Staatswesen, welches bloß aus inneren Gegengewichten und Oscillationen der Pouvoirs hervorgehen solle – alle diese Undinge, die sich selbst regieren und in ihren eigenen Schwankungen leben und weben sollen, wie wären sie möglich, ohne den Teufelsspuck einer Allmacht, Allgegenwart, Allbehülflichkeit des Geldes, wie sie der Uebermuth gefallener Geschlechter ersann! Lassen Sie mir diese Marotte, liebster Freund! Schließen Sie mich wegen dieser „Eigenthümlichkeiten meines Geistes“ nicht von dem Uns aus. Deßhalb gehörte ich Ihnen kaum, sagen Sie, liebster Freund! O wenn doch Einer, ein Einziger Ihnen und dem Fürsten mit wärmerer Hingebung, mit mehrerer Selbstvergessenheit angehört, wenn noch Einer Ihre ganze Sache so wie ich, statt des Lebensodems, statt der Seele im Herzen trägt, dann sollen Sie recht haben! Wohin soll ich gehen, was soll ich thun, damit auch Sie empfinden, daß ich Ihnen ganz angehöre? Versuchen Sie mich, theurer Freund! Geben Sie mir Ihre Aufträge, und es wird sich zeigen, ob ich bloß in meinen Neigungen, meinen Visionen, meinen Verhältnissen und Studien lebe. Der Grund meiner „Unthätigkeit“ liegt nicht in mir. Sie haben (mit übervollem Rechte) das Eine große Loos gezogen, was in Europa, was in Oesterreich zu erreichen war. Ich danke Gott und dem Fürsten, daß ich in einiger ökonomischer Ruhe zu Leipzig lebe. Mehr war für mich nicht zu erreichen. Wir dürfen uns nicht verbergen, daß die Geburtsprätensionen in Europa, durch unsere sehr wesentliche Mithülfe, sich wieder sehr breit zu machen beginnen. Es ist kein kleines Unglück zumal für die deutsche Aristokratie, daß sie ihren besten Vertheidigern den Weg zu verrennen verdammt ist. So bin ich nun auf den Gipfel dessen seit <374:> sieben Jahren gelangt, was ich vernünftiger Weise begehren konnte. Ich kann nicht praktisch nützen, aber ich bin frei und kann für die Zukunft leben, die meinen Kindern angehört. Auch wäre ich, wie gesagt, ein treffliches correspondirendes Mitglied, wenn man mit mir correspondiren, d.h. mir antworten wollte. Wessen also klagen Sie mich an, liebster Freund? Ihre Hoffnungen über Deutschland, über den Bund waren mir neu, aber ich theile sie gern. Unser Fürst ist glücklich, das war bis jetzt mein Trost. Unermüdlich der Ihrige, Nächste, Treueste Adam Müller. |
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