Briefwechsel 218. Lambach, den 2. Januar 1823. Ich fange damit an, die Aufschrift dieses Briefes zu erklären. Ich hatte Venedig einige Tage vor dem Fürsten verlassen und kam am 24. December in Innspruck an, wo ich fünf bis sechs Tage auszuruhen hoffte, da der Fürst erst am 27. oder 28. dort eintreffen und zwei oder drei Tage verweilen wollte. Bei meiner Ankunft in Innspruck erhielt ich Ihr interessantes Schreiben vom 12. December. Mit der Ruhe in Innspruck hatte es nur insoweit seine Richtigkeit, daß ich, außer ein paar Diners beim Grafen Choteck, nicht genöthiget war, meine sehr gute Stube in der Sonne zu verlassen. Arbeiten mußte ich meine zwölf Stunden des Tages, wie in Verona. Mitten im Getümmel des Congresses hatte meine Correspondenz mit Bukarest wieder angefangen oder anfangen sollen; ich mußte also meine ersten Berichte redigiren; ich mußte viele Bogen nach Constantinopel schreiben, welches keinen Aufschub litt; ich mußte die Schlußdeclaration des Congresses ins Deutsche übersetzen, ich mußte endlich eine bis dahin verschobene große Arbeit über einen Gegenstand, der uns näher angeht, als Türken und Spanier, zur Hand nehmen. Am 27. kam der Fürst und mit ihm wieder eine gewisse Anzahl currenter Sachen. Ihnen zu schreiben, das gelang mir nicht. So <366:> ging es bis 30. spät Abends. Am 31. fuhr ich früh von Innspruck ab (der Fürst an demselben Tage über Kuffstein nach München) und bei einer Kälte von 10°, die mir aber nichts anhaben konnte, bis nach St. Johann, wo ich in der Pfarrei eine ausgezeichnet gute Aufnahme fand, so daß ich das Jahr 1822 mit einem angenehmen Abend und einer vortrefflichen Nacht beschloß. Ich hatte übrigens auf dieser Reise Leopold, Schweitzer, Bastian und Franz bei mir und war mit allen Bequemlichkeiten des Lebens reichlich versehen. Gestern ging ich von St. Johann nach Salzburg, wo auch der Kaiser den Neujahrstag zubrachte. Da er heute um acht Uhr abfahren wollte, so mußte ich, um nicht unter seine 28 Wagen zu fallen, entweder früh genug vor ihm oder mehrere Stunden nach ihm reisen. Letzteres fand ich unrathsam und entschloß mich daher früh um 5 Uhr meinen Marsch anzutreten. Dafür wurde ich mit einer sehr schnellen und glücklichen Expedition belohnt, kam um 1 Uhr hier an und bleibe nun den Ueberrest des Tages in Lambach. Dieß willkommene Otium benutze ich, um Ihnen zu schreiben. Der Congreß war, nicht seiner innern Wichtigkeit wegen (in dieser Hinsicht steht er andern nach), aber in Bezug auf meine Persönlichkeit, einer der merkwürdigsten Zeitpunkte meines Lebens. Nie hat das unermüdliche Glück, um mich eines so unchristlichen Ausdrucks zu bedienen, welches mich seit so vielen Jahren begleitete, sich in siegenderem Lichte gezeigt, als während der vergangenen drei Monate. Sie erinnern sich, daß ich gerade in den schönsten Tagen des letzten schönen Sommers wieder eine Anwandlung arthritischer Beschwerden hatte, und daß ich deßhalb um Ihre Verwendung bei Hahnemann bat. Ich erhielt auch seine Antwort am Tage meiner ersten Ankunft in Salzburg. Ich verließ Wien nicht ohne einige Besorgniß. Die Reise nach Verona, die 14 herrliche Tage dauerte, stimmte mich schon sehr heiter und muthig. Die Fahrt durch diese reizenden Länder bei dem schönsten Wetter, welches sich die Einbildungskraft mahlen kann, der dreitägige Aufenthalt in Salzburg, der dreitägige Aufenthalt in Innspruck, die bequemen Tagereisen, die gute Gesellschaft (der Fürst, Nesselrode, Lebzeltern, Bernstorff), der gute Charakter dieser Reise, die mehr einer Lustpartie als einer Geschäftsreise glich, wirkten höchst günstig auf mich. Ich wollte die Hahnemann’schen Pulver in Verona anfangen, als ich aber dort ankam, fand <367:> ich mich schon so erleichtert, daß ich es aufschob. Jetzt begann eine äußerst stürmische Periode. Mehr Unruhe, mehr wüstes Treiben, mehr Tracasserien als in den ersten vier Wochen, und mehr materielle Schreiberei als in den letzten sechs Wochen hatte ich noch bei keinem Congreß erlebt. Gleichwohl stärkte sich meine Gesundheit von Tag zu Tage; mein Ziehen in Armen und Beinen verlor sich immer mehr und mehr, hörte allmälig ganz auf. Mein Appetit, der seit dem Sommer schwach gewesen war, belebte sich; keine Spur weder von Durchfall noch Verstopfung, während alle andern Fremden über eins oder das andere klagten; der Schlaf hing bloß von meinem Kopf, fast möchte ich sagen, von meinem Willen ab; denn zuweilen schlief ich mehrere Nächte nicht drei Stunden; dann konnte ich wieder, wenn eine Pause eintrat, von 8 Uhr Abends bis 8 Uhr Morgens schlafen. Und das alles in einer Zeit, wo ich täglich zwölf, vierzehn, sechzehn Stunden saß und arbeitete. Zu Fuße bin ich in Verona nicht einmal, außer alle Tage zum Fürsten, der 100 Schritt von mir wohnte, zu Wagen nur höchst selten aus dem Hause gekommen. Weil man wußte, daß ich immer beschäftigt war und mich überdieß mit derselben, eigentlich noch mit größerer Achtung, Deferenz und Condescendenz als je zuvor behandelte, so strömte alles zu mir. Daß die Gespräche immer Geschäfte betrafen, folglich ebenso ergreifend, oft ergreifender waren, als diese, werden Sie leicht begreifen. Außer dem Fürsten und seinen Umgebungen sah ich täglich Lord Strangford, einen äußerst interessanten, genialischen Mann, Lamb, der Wellingtons Vertrauter war, Bernstoff, Hatzfeld, Tatitscheff &c. Mit Chateaubriand hatte ich verschiedene tief eingreifende Unterredungen. Die Gräfin Lieven hielt jeden Abend um 10 Uhr Salon für die ganze Diplomatie. Diesen habe ich drei- bis viermal im Ganzen besucht. Das Resultat war, daß ich mit keiner Zeit erinnere, selbst in meinen besten Jahren nicht, wo ich ein lebhafteres Bewußtseyn innerer Kraft, unerschöpflicher Ausdauer unter allen Anstrengungen, Fähigkeit zu allen Geschäften, tiefster Entwickelung der Ideen, Muth, Sicherheit und Heiterkeit in mir gespürt hätte, als vom 1. Oktober bis, gottlob, zum heutigen Tage. Ich hatte Laibach im Mai 1821 mit einem Gefühl verlassen, als würde ich keinen Congreß mehr besuchen. In Verona (welches mir übrigens als Ort, als Aufenthalt, höchst gleichgültig, ja fatal und ekelhaft war) fühlte ich mich so, als finge ein neues Leben in mir an. Die <368:> Erscheinung frappirte mich selbst (in meinen Jahren) so sehr, daß ich durch den Gedanken, es sey so, immer noch mehr begeistert ward, und mich zuweilen (welche Vermessenheit Gott mir verzeihen wird!) gleichsam in meine eigene Virtuosität verliebte. Sie setzte aber auch andere, die mich näher betrachteten, in Verwunderung. Ich habe Ihnen dieß Bild vorgelegt, mein theuerster Freund, weil es Sie gewiß interessieren würde, wenn ich es von einem Dritten, Ihnen Fremden entworfen hätte, mithin, da es mich angeht, und da Sie mich oft in Augenblicken aufsteigender Muthlosigkeit auf ähnliche Wiederkehr guter Zeiten verwiesen haben, Ihnen sehr erfreulich seyn muß. Was den Congreß an sich selbst betrifft, so kann ich nur sagen, daß er zwar nicht besser, aber doch auch nicht schlechter ausgefallen ist, als ich mir ihn mit größter Bestimmtheit vorher gedacht hatte. Bei der politischen Stellung, die England seit fünf Jahren angenommen hat, und bei dem schwankenden, gährenden, prekären Zustande Frankreichs (wo jedoch die vorherrschende Gesinnung gut und löblich ist) läßt sich von einem Congreß der fünf Mächte nichts mehr erwarten. Die Probe war eigentlich in Laibach schon gemacht. Besondere Verhältnisse bewogen, zwangen beinahe den Fürsten, dieß leere Stroh noch einmal zu dreschen. Die Gegner kennen das, so gut wie wir, und werden uns genugsam damit heimsuchen. Dagegen sind die drei Höfe unverletzt, und ich denke mit allen Ehren abgetreten. Aus dem Schlußcircular werden Sie sehen, daß wir von unserer Linie um kein Haar breit gewichen sind; und daß die Einigkeit zwischen diesen drei Höfen eine enge, ihr Entschluß, die Revolution zu bekämpfen, und nichts als dieses zu thun, nie fester und stärker war als jetzt, glaube ich Ihnen verbürgen zu können. – Die Resultate der Verhandlungen über Piemont und Neapel können uns nur zum höchsten Vortheil in der Meinung der Welt gereichen. – Die türkisch-griechische Frage in aller Stille begraben zu haben, war kein geringer Gewinn und kein geringes Kunststück. Wenn Sie über die Stelle im Circular, die diesen sanften Tod betrifft, nähere Aufschlüsse brauchen, so bin ich bereit dazu. Ich denke, die Griechenfreunde werden sie wohl ohne weitern Commentar verstehen. – In der spanischen Angelegenheit haben wir wenigstens unsere Würde behauptet und unsere Position gereinigt und gesichert. Den ferneren Gang und Ausgang derselben aber haben wir freilich offen und höchst unbestimmt gelassen. Wie hätte es auch anders seyn können, da <369:> in dieser Sache Frankreich und England offenbar die Hauptstimmen hatten? Zu bedauern ist allenfalls nur, daß wir die schwache Hoffnung, zu einem allgemeinen Einverständniß darüber zu gelangen, vielleicht etwas zu lange genährt haben. Indessen hat auch dieß wieder seine guten Seiten gehabt. Ueber die deutschen Angelegenzeiten ist in Verona nichts verhandelt worden; diese sollen nun in Wien an die Reihe kommen, und ich werden Ihnen von den Resultaten by and by Nachricht geben. Wir sind so lange voneinander getrennt gewesen, mein lieber Freund, daß ich eigentlich selbst nicht recht weiß, was ich ohne Unbescheidenheit heute von Ihnen hoffen, erwarten oder verlangen dürfte. Mannichfaltige Gedanken sind mir hierüber jetzt und früher durch den Kopf gegangen; sie sind aber alle mit Schwierigkeiten und Skrupeln verknüpft, die ich nicht zu lösen vermag. Daß wir einen solchen Bundesgenossen, wie Sie, nicht in die erste Linie stellen, nicht in allen wichtigen Actionen auf’s Thätigste verwenden können, werde ich immer als eine wahre Calamität betrachten. Und doch, wie das anfangen, bei Ihrer nun einmal fixirten Lage, bei so vielen Eigenthümlichkeiten Ihres Geistes, Ihren Neigungen, Ihren Verhältnissen, und bei allem, woran es uns fehlt, um die äußern Hindernisse zu beseitigen? Vielleicht können wir uns im bevorstehenden Sommer auf ein paar Wochen sehen; ich werde wenigstens alles Mögliche dafür thun. Ich las, zwischen Venedig und Botzen, abermals Ihre Schrift: ich werde wenigstens alles Mögliche dafür thun. Ich las, zwischen Venedig und Botzen, abermals Ihre Schrift: „Von der Nothwendigkeit einer theologischen Grundlage &c.“ Es ist leider nur ein Fragment. Dieß Fragment aber enthält Abschnitte und Stellen, die in Deutschland mit nichts, und überall nur mit den besten Capiteln des unsterblichen Maistre zu vergleichen sind. Selbst der Styl erhebt sich an vielen Orten über das Beste, was die Besten unter uns geleistet haben. Sie erinnern sich, mit welchem Enthusiasmus ich diese Schrift im Jahr 1819 gelesen hatte. Vier Jahre später wirkt sie noch eben so auf mich. Die Stelle z.B. S. 67: „Warum aber besteht nichtsdestoweniger eine gewisse Ordnung der Dinge? – die ich hundert- und hundertmal gelesen, oder mir im Stillen vorgesagt habe, – eben so unvergleichlich in ihrem Rhythmus als tief und schwer in jedem Gedanken, in jedem Worte, wird mir, so lange ich lebe, in Ohr und Herz tönen. Und Sie verzehren Ihre Tage theils in einsamen Studien, wovon uns nichts zu Gute kömmt, <370:> theils mit hohen, aber von unsern gegenwärtigen Bedürfnissen doch gar zu weit entlegenen Meditationen, theils in kleinen Scharmützeln, theils in trüber Unzufriedenheit über Dinge, die weit unter Ihrer Notiz sind! Ich kann nicht den trockensten Bericht über den geringfügigsten Gegenstand von Ihnen lesen, ohne mir zu sagen: Wir haben nur Einen solchen! Und dieser – gehört uns kaum. Ich bitte und beschwöre Sie, in diesen Reflexionen nicht Vorwürfe zu wittern. Ich sehe und fühle vollkommen, daß das, worüber ich klage, bitter klage, nicht in Ihnen allein liegt. Ich klage ein Verhängniß an, welches Sie gerade so in Bezug auf uns, und uns gerade so in Bezug auf Sie gestellt hat. Die Zeiten sind schwierig. Ihnen entging es gewiß nicht, daß die Matadors der Gegenpartei sich seit einigen Jahren (sowohl in Deutschland als Frankreich) in allen Künsten des Vortrags gewaltig geübt haben. Was haben wir ihnen in Deutschland entgegen zu setzen? Und jetzt, da wir beide doch noch vielleicht eine gewisse Reihe von Jahren (und welche Jahre!) gemeinschaftlich wirken könnten, müssen auch wir von einander gerissen, und Sie beinahe zur Unthätigkeit verdammt seyn! Ich bitte Sie sehr, liebster Freund, bei Ihren künftigen Sendungen neuer Broschüren an den Fürsten (welche Sie ohne alle Rücksicht auf Postporto und dergleichen Miseren nicht fleißig und häufig genug, selbst für die Wünsche des Fürsten, bewerkstelligen können) stets die Einrichtung zu treffen, daß Sie die Druckschriften in einer besondern Enveloppe an mich adressirt, mit der Bemerkung: Zum Bericht von dem &c. Datum, abgehen lassen. Dadurch gewinnen Sie die Sicherheit, daß die Sachen in meine Hände kommen, und ich davon dem Fürsten Vortrag mache. Jetzt erhalte ich sie freilich von ihm, aber es geschieht öfter, daß sie mir ganz entgehen. So habe ich die Schrift von Limmer nicht zu Gesicht bekommen, ob sie gleich Ihrem Bericht vom 27. November beigelegt gewesen ist. Auf der ganzen Reise durch Salzburg und Tyrol nach Verona, von da nach Venedig (welches mir zwar durch seine Pracht und Bizarrerie imponirt, doch nur mittelmäßig gefallen hat), dann über Bassano, Trient &c. wieder zurück ist mir auch nicht der kleinste Unfall begegnet, vielmehr alles nach Wunsch, und oft über meine Wünsche gut gegangen. Nur Eines werfe ich mir vor. Ich wollte auf der Hinreise, da der Fürst und die Andern den Gardasee besuchen wollten, von Botzen nach Meran, und <371:> von da noch so weit auf der Straße nach Graubünden vorgehen, bis ich an die Ortelesspitze gekommen wäre. Ich hätte, um diese Excursion mit Bequemlichkeit zu machen, drei Tage dazu verwenden müssen; das wollte ich auch; es war freilich am 11. Oktober, aber die Natur prangte noch in ihrer vollen Schönheit, und hätte ich meinen Wetterinstinkt den unnützen Skrupeln des Kreishauptmanns Hauer in Botzen vorgezogen, so wäre dieser große Genuß mit zu Theil worden; ich werde es lange bereuen, ihm gefolgt zu haben. Gleich jenseits Botzen, wo die Ebenen der Lombardei anfangen, hatte ich keine Freude mehr am Lande; wenn man aus Tyrol kömmt, ist Italien doch gar zu kahl und unschmackhaft. Ich mochte nun nicht einmal nach Riva, und erfuhr nachher, daß ich wohl daran gethan, weil außer ein Paar (eingesetzten) Orangebäumen dort nichts zu sehen ist. Verona ist ein Haufen von Ruinen, das italienische Volk eine häßliche, armselige, bald Mitleid, bald Ekel (nur nie Schrecken) erregende Menschenrace, die ich nie wieder zu erblicken wünsche. Es lebe Deutschland, die Alpen, und die deutschen Alpenländer! – die Schweiz ausgenommen. Ich denke Sonntag zu Mittag in Wien einzutreffen. Von da werde ich diesen Brief expediren, wie, das weiß ich selbst noch nicht recht. Auf die Post möchte ich ihn, ob er gleich nichts Verfängliches enthält, doch nicht geben, und sichere Gelegenheiten nach Leipzig, ja selbst nach Dresden, sind leider bei uns sehr selten. Vielleicht gibt mir Rothschild einen guten Rath. Erfreuen Sie mich bald mit einem guten Briefe. Gentz. |
||
Copyright by Institut für
Textkritik, Heidelberg © 2005 |
||