Briefwechsel 216. Wien, den 11. September 1822. Da Kraus heute Abend nach Leipzig geht, so soll er durchaus diesen Brief von mir mitnehmen. Ich bin Ihnen auf zwei der Ihrigen eine Antwort schuldig; diese kann freilich nur kurz ausfallen. Außerdem aber muß ich Sie von einem Gegenstande, der mich näher angeht und der Ihnen gewiß nicht gleichgültig ist, unterhalten. In Ihrem Schreiben vom 18. äußern Sie den Wunsch, „der Beobachter möchte absichtlich merken lassen, daß nun, seit der Ernennung der Hospodare, andern Empfindungen (in Ansehung der Griechen) Raum gegeben werden könne.“ Hierauf bemerke ich:1) der Beobachter – was Ihnen nicht leicht entgangen seyn kann – hat sich nie mit einer Sylbe über die eigentliche Griechenfrage, weder über die rechtliche noch über die politische, erklärt. Unsere sämmtlichen Artikel waren entweder rein historisch oder polemisch, als Vindication der historischen Thatsachen gegen Millionen von Lügen. Der Umstand, daß wir dieß Geschäft übernommen hatten, übernehmen mußten, hat das Publikum natürlich zu dem Schlusse verleitet, daß wir den Türken (da sie zum Unglück immer Recht) gewogen, und den Griechen (da sie zum <362:> Unglück immer Unrecht hatten) feindselig wären. Gesagt haben wir es nie; mithin hätten wir auch von dieser Seite nichts zu ändern, wir müßten denn auf einmal das Gegentheil – daß wir die Griechen lieben und die Türken hassen – zu erkennen geben; das werden Sie aber uns, und namentlich mir, nicht zumuthen. 2) Die Ernennung der Hospodare liefert bloß einen neuen Beweis der Grundlosigkeit aller Anklagen gegen die Türken; wie dieß Factum uns bestimmen könnte, irgend etwas den Griechen Günstiges zu sagen, begreife ich nicht. 3) „Das moralische Beiwort des Kapudan Pascha“ fand sich in einem Artikel des Spectateur Oriental, der im Beobachter übersetzt war; wir sind also durchaus nicht dafür verantwortlich. Doch übernehme ich die Vertheidigung des Wortes wider die ganze Welt. Strangford, der etwas mehr von diesen Dingen weiß als andere, schrieb mehrere Monate vor der Katastrophe von Scio: „He ist a man of very enlightened principles, and the most amiable disposition of mind; his politics are thoroughly of the lenient and negociating kind. If his advice had been followed in the Council, the rebellion of the Greeks had been long broken by money. He knew enough of this vile and contemptible race to be convinced, that not one of them should have resisted this bail, in spite of all their furious declamations. He had also foreseen with great sagacity that severe measures, though more then justified by this infamous rebellion, would rise a cry against the Turkish ministers trough all Europe etc. But his opinion was overruled by the pride still mor then by the avarice of the Sultan, and by the sanguinary temper of Haleb.“ So war der Kapudan-Pascha. 4) Wenn Sie von der ganzen Sache nur den zwanzigsten Theil dessen wüßten, was wir wissen, so fiele es Ihnen sicher nicht ein, das Parterre durch mildernde Aeußerungen zu Gunsten der Griechen zu befriedigen. Wir haben die Schonung auf’s Aeußerste getrieben, indem wir uns enthielten, unser tausendfach documentirtes Urtheil über ihre Verworfenheit auszusprechen. 5) Uebrigens kömmt in jedem Falle Ihr Wunsch zu spät. Denn es ist heute an einen Einfluß der europäischen Mächte auf die künftige Behandlung der Griechen gar nicht mehr zu <363:> denken. Jetzt würden wir uns also mit Insinuationen, wie Sie sie meinten, nur lächerlich machen. Wir bleiben daher auf unserer historischen Linie; wenn aber der Augenblick gekommen seyn wird, die Verblendung, in welche sich Europa hat ziehen lassen, mit der Fackel der Wahrheit zu beleuchten, dann sollen Sie urtheilen, ob es uns Selbstüberwindung gekostet hat oder nicht, die Artikel des Beobachters über die Türkei (die ich als das größte diplomatische Kunststück meines Lebens betrachte) so zu stellen, wie sie fortdauernd gestellt waren. Auf Ihren zweiten Brief bemerke ich, daß mir vor einiger Zeit ein Aufsatz des Dr. Hülsemann (ich glaube beim Schluß seiner Vorlesungen) zu Gesicht gekommen ist, der mich sehr frappirt hat, und der mir stärker schien als der von Ihnen übersendete. Was er in diesem sagt, ist wahr und gut, aber allerdings höchst unzureichend. Gerade aus diesem Umstande sehe und schließe ich von neuem, wie unglaublich wenig man in Ihren Gegenden von dieser höchst interessanten Episode der Zeitgeschichte weiß. Bei der ausgebreiteten Kenntniß, die ich mir durch zweijährige rastlose Arbeiten über diesen Gegenstand erworben habe, erscheinen mir, ich leugne es nicht, heute die aufgeklärtesten Männer wie Stümper und Pinsel, sobald von der Türkei die Rede ist. Eine Reise von hundert Meilen und ein Aufenthalt in Verona, der sich bis zu Ende November (weiter gewiß nicht) verlängern kann, steht mir bevor. Der Zeitpunkt dieser Reise hängt von Lord Wellingtons Ankunft in Wien und seinen uns noch unbekannten ferneren Entschlüssen ab. Es ist wahrscheinlich, daß er nicht vor dem 20. d.M. hier eintreffen wird. Wir haben Gründe zu wünschen, daß er die Reise nach Verona mit uns mache; wir haben aber Gründe zu glauben, daß er das Gegentheil wollen wird. (Lord Castlereagh wäre nicht mitgereiset, so viel wissen wir.) Entschließt sich Wellington, so bricht die ganze Boutique den 24. oder 25. von hier auf; will er nicht, so müssen wir ihm zu Gefallen, wozu auch der Kaiser Alexander völlig geneigt ist, bis zu Anfang des Oktobers noch hier bleiben. So steht die Sache. Hier schließe ich für heute. Ich habe einem großen und ermüdenden Galadiner bei Goloffkin zur Feier des Alexandertages beigewohnt und muß versuchen, was mir für diese Nacht von Schlaf beschert seyn wird. Leben Sie wohl! Gentz. <364:> |
||
Copyright by Institut für
Textkritik, Heidelberg © 2005 |
||