Briefwechsel

210.

Wien, 16. Oktober 1821.

Ich setze voraus, daß Sie den Brief, welchen der Fürst selbst mitzunehmen geruhte, richtig erhalten haben, und gehe nun weiter vorwärts in meinen Erklärungen.

In der beiliegenden Ankündigung ist, wie mir scheint, alles gesagt, was vorläufig zu wissen nöthig seyn konnte. Es steht nun bei Ihnen, von diesem Blatt nach eigener Einsicht und Sachkenntniß Gebrauch zu machen, und dabei durchaus in meinem Namen und als von mir speciell bevollmächtigt, zu agiren. Wenn Sie es für gut oder für nothwendig halten, daß ich diesem oder jenem Individuum selbst schreibe, so melden Sie es mir; wo Ihre unmittelbare Verwendung ausreicht, da dispensiren Sie mich vom Ueberflüssigen. Zu wünschen wäre wohl, daß diejenigen, welche sich zur Theilnahme verstehen, sich wenigstens gegen Sie schriftlich darüber erklärten.

Prüfen Sie selbst genau, ob der Entwurf, wie ich ihn hingeschrieben habe, Verbesserungen oder Ergänzungen erheischt. Was Ihnen dringend scheint, fügen Sie ohne weiteres hinzu. Ueber andere Punkte oder etwa Ihnen selbst aufsteigende Bedenken lassen Sie mich so schnell als möglich Ihre Meinung hören.

Den Charakter, den diese Zeitschrift eigentlich haben soll, mit bestimmten Worten zu bezeichnen, ist nicht ohne Schwierigkeit. Ich habe daher in der Ankündigung nur sehr allgemeine Ausdrücke gebraucht, und so gesprochen, als wäre dieser Punkt bereits ganz festgesetzt. Sich darüber gegen das Publikum zu erklären, wäre noch schwerer, und das ist einer der Gründe, weßhalb ich sehnlich wünsche, daß vor der Erscheinung des ersten Bandes so wenig als möglich davon gesprochen werde. Dieß alles werden Sie vollkommen anerkennen; eine größere Frage bleibt dann aber noch zurück: ob nämlich wir selbst und unsere intimsten Gehülfen auch vollständig unter einander eins werden können? Ich habe nicht Zeit, meine Worte hier auf die Wagschale zu legen; der Sinn dessen, was ich meine, wird Ihnen nicht entgehen. Ich weiß alles, was sich gegen die rein polemische oder rein negative Behandlung großer praktischer Gegenstände einwenden läßt; ich weiß, das das Aufbauen des Guten mit dem Niederreißen des Schlechten Schritt halten muß, wenn auf tüchtige <351:> Resultate auch nur hingewiesen werden soll. Der bloße nackte Kampf für die Aufrechthaltung der bestehenden Macht und gegen die revolutionären Bestrebungen hat daher allerdings etwas Unbefriedigendes, Beengendes, Einseitiges &c. Von der anderen Seite ist es jedoch sehr gefährlich, in einem Zeitpunkte, wie der jetzige, mit einiger Bestimmtheit und Schärfe anzugeben, was denn nun eigentlich zwischen das, großer Modifikationen und neuer oder erneuerter Stützen höchst bedürftige Alte und das schlechthin verwerfliche Neue treten soll. Schwer ist es, diese Frage auch nur theoretisch zu beantworten; denn todte, materielle Rückkehr zu irgend einer früher bestandenen Form ist offenbar unmöglich, und wie die Elemente vergangener besserer Zeiten und Zustände in das heute vorhandene, ohne dieses dem Unsturz auszusetzen, zu verweben seyen, eine Aufgabe, die den kühnsten politischen Baumeister schrecken muß. Wenn es nun aber gar erst auf die Anwendung und Ausführung ankömmt – ich meine auf Entwürfe und Vorschläge, die als anwendbar und ausführbar erscheinen sollen – welche Klippen von allen Seiten! Vorerst, daß man nichts aufstelle, dessen Realisirung sich ohne eine Art von Wunder, oder wenigstens ohne eine totale Umkehrung der Ansichten, Gewohnheiten, Bestrebungen &c. aller Mächtigen auf der Erde nicht denken läßt (leider gehören viele Ihrer eigenen, oft Ihre schönsten Ideen, mein theurer Freund, ganz in diese Kategorie); – dann wieder, daß man nicht mit Planen herausrücke, die zu große Hoffnungen auf einer, zu großen Widerstand auf der andern Seite provociren – nicht mit solchen, die, diesem oder jenem Lieblingssystem angehörend, auf allgemeine Beistimmung der Gutdenkenden nicht zählen können – endlich (was bei uns nun einmal in Betrachtung gezogen werden muß) nicht mit solchen, die einen stillschweigenden Vorwurf gegen uns selbst und unser Regierungssystem involviren würden. Ich wünschte, daß vor der Hand alle politische Polemik sich darauf beschränken möchte: 1. falsche Thatsachen, falsche Lehren und schlechte Schriftsteller zu widerlegen; 2. selbst den bessern Theil der Zeitgenossen mit dem Gedanken, sey es auch nur auf eine kurze Reihe von Jahren, alle Neuerungen zu vertagen, und nur die Autorität vor dem Untergang zu retten, zu familiarisiren; 3. gewisse Grundsätze für die künftige Reform der Staaten niederzulegen. – Bemerken Sie wohl: ich wünschte, daß man sich auf diese Sphäre – die doch immer noch großen Spielraum läßt – beschränkte. Ob es geschehen kann, ob dieser <352:> nüchterne, negative, resignirte Gang auch nur denen, die für und mit uns arbeiten sollen – um nichts von den andern zu sagen – behagen würde, das will ich gern Ihrem Urtheil überlassen.

Es sind Ausdrücke in Ihren Briefen, die mich oft gewaltig erschrecken. Sie sprechen so, als wenn wir ein neues positives Panier aufstecken, eine neue gereinigte positive Staatslehre fundiren sollten u.s.f. Von dem allen finde ich uns weit, sehr weit entfernt. Bei mir heißt es heute (und ich fürchte, lange) nur noch: Virtus est vitium fugere, et sapientia prima – stultitia caruisse. Indessen will ich mich gern eines Bessern überzeugen, wenn auch nur ein Theil Ihrer sanguinischen Hoffnungen in Erfüllung geht.

Von Görres habe ich jetzt die größere Hälfte gelesen. Er kommt mir vor, wie ein mit Blumen und Früchten überladener chinesischer Garten, worin man Mühe hat, auch nur die Fußsteige noch zu erkennen. Unter diesem gigantischen Schwall von Methaphern, Gleichnissen und Allegorien, diesem Platzregen von mathematischen, chemischen, astronomischen, medicinischen &c. Figuren sind allerdings einige starke und große Gedanken und Ansichten vergraben, aber wer mag den Faden festhalten? und wohin führt das alles zuletzt? Ich begreife nicht, wie ein Mann von gesetzten Jahren närrisch genug seyn kann, ein solches Buch für etwas anderes als einen mythischen Hymnus auszugeben. Zur Widerlegung ist es freilich eben so wenig geeignet, als Miltons verlornes Paradies oder der Ariost. Man müßte es mit einem Gegengedicht beantworten. Ich vermuthe, daß der letzte Theil, dem Sie einen wilden Charakter beilegen, für mich doch noch der verständlichste seyn wird. – Solche Menschen wie Görres sind mir unauflösliche Probleme. Wie kann z.B. derselbe, der (im ersten Abschnitt) die Priester über die Geschichte der letzten Jahrhunderte einige der vortrefflichsten, wahrhaft inspirirten Aussprüche thun läßt, gleich nachher im Namen des Erdgeistes eine Masse von Frevel, ja, wenn ich es sagen darf, von reinem Unsinn vortragen? Es ist überhaupt, nach meiner Meinung, ein verruchtes Beginnen, eine Menge schroffer Gegensätze neben einander zu stellen, und sogar möglichst auszumalen, ohne sie zuletzt, sey es nun durch entschiedene Unterordnung des niedern Standpunktes unter den höhern, sey es durch Vereinigung in einem über beide erhabenen Dritten, deutlich und vernehmlich aufzulösen. Das Schwanken einer absoluten Neutralität zwischen zwei mit <353:> einander streitenden Principien ist eine ärgere Gotteslästerung, als die feindseligste Vertheidigung des Schlechten.

An solche Bücher werde ich mich nicht wagen. Sie sind vielleicht der Einzige in Deutschland, der im Stande wäre, mit Görres anzubinden; und doch würde ich Sie nicht ohne Zittern in diesen Kampf gehen sehen.

Ich schließe jetzt, weil mein Brief morgen früh durch einen Courier abgehen soll, und erwarte mit großer Sehnsucht Ihre Antwort, die gewiß im höchsten Grade interessant seyn wird.

Gentz.