Briefwechsel

208.

Leipzig, 7. Oktober 1821.

Ich habe Ihr mir sehr werthes Schreiben vom 30. September erst am 6. Oktober erhalten, wahrscheinlich weil die Post vom 30. von Wien <346:> schon abgegangen war, als es aufgegeben wurde. Zuvörderst also über den mir sehr theuren Auftrag an Hahnemann. Ich habe sogleich, mit nicht viel geringerer Umständlichkeit als der Ihres Berichts, an H. geschrieben und Ihr physiologisches Portrait auf meine Weise entworfen. Das ganz Charakteristische mußte herausgehoben werden: bei der höchsten geistigen Reizbarkeit eine sonderbare Gleichgültigkeit gegen alle physischen Gewohnheitsreize, die wohl nur in einem ungewöhnlichen Vorherrschen der Seelenkraft ihren Grund hat. Eigentliche Leidenschaften, ausgenommen etwa für den Ruhm oder gegen das im gewöhnlichen Sinne des Wortes Gemeine, hatten Sie meines Wissens seit dreißig Jahren nie. Selbst Ihre Appetite, Neigungen, Genüsse hatten einen seelischen, reflektirenden Charakter, wobei es nie auf den körperlichen, kubischen Inhalt ankam. So kann also nur von den Gewohnheitsreizen des täglichen Lebens die Rede seyn; die spirituösen Reize wies Ihre glückliche Natur mit bestimmter Abneigung zurück; in den narkotischen Reizen, den gefährlichsten (Kaffee, Thee), suchten Sie nicht den Reiz, sondern den bloßen Wohlgeschmack und das bequeme Vehikel für die mit Vorliebe begehrten Lacticinien.

Dieß mußte Hahnemann vorzüglich wissen; in der bloßen Geschichte der Arznei- und Hautvergiftungen durch Metalle und Bäder, so wichtig sie ist, würde sich Hahnemann nicht genug orientiren. Die obige Bemerkung erklärt ihm, der Sie in den öffentlichen und Staatsschriften der letzten dreißig Jahren sehr wohl kennt, das Hauptphänomen Ihrer höheren Natur, nämlich den ausdauernden Gleichmuth der Conception, die standhafte Verbindung von Geist und Fleiß, von Genie und Arbeitsamkeit, kurz die Erhabenheit über alles journaliere Talent, welche wie das meinige der äußeren Reizmittel nicht entbehren kann. Sie blieben, obwohl der Anschein zu widersprechen scheint, gleichsam an der Mutterbrust; während Ihre Seele alle Genüsse der Erde versucht, kann man doch nur von Obst, Milch, kaltem Brunnenwasser und den Freuden der Diskussion sagen, daß Sie solche eigentlich begehrten. So erklärt sich dann auch, das der geistigste Sinn, nämlich der Geruchsinn, vorherrschend wurde. Die Gerüche entsprachen am meisten dem, was Sie in allen übrigen Genüssen eigentlich begehrten und suchten.

Aus dieser Ansicht ergibt sich meine Ueberzeugung:

Erstens, daß es mit Ihnen nicht so schlimm steht, als Sie denken. Die Freiheit des Kopfes und des Geistes zeigt den gesunden Kern. <347:> Zerstörende Gemüthsagitationen gibt es in Ihnen nicht; alles Wichtige, was Ihr Geist erlebt und was ihm begegnet, ist mehr oder weniger aufbauender, aufrichtender Art. Ihr Kopf ist so stark, daß, gestehen Sie nur, körperliche Schmerzen und Unbehagen abgerechnet, eigentlich nichts Ihnen erhebliche Sorgen und Leiden verursacht hat. Welches Datum für einen wahren Arzt! Daher meine Ueberzeugung

zweitens, daß Ihre Natur mit dem Minimum von medicinischen Reizen angegriffen werden will. Daher ist Hahnemann ihr geborener Arzt, und Ihr Organismus ein wahrer Fund für ihn. Sie wissen, daß er in unzähligen Fällen nur durch den Geruch heilt. Seine Hauptaufgabe ist freilich, über die Arzneikrankheiten Herr zu werden, welche Ihnen die Schule ankurirt hat, und Ihre Diät zu den Normalforderungen Ihrer Natur zurückzuführen. Das Schwierigste wird seyn, die körperliche Bewegung zu ersetzen, welche freilich conditio sine qua non der meisten Hahnemann’schen Heilungen gewesen ist. Uebersehen Sie den Hauptumstand nicht, daß Sie es der Festigkeit Ihres Kopfes verdanken, daß man Ihrem Blutsysteme nicht zugesetzt hat, und daß Sie (im Ganzen und vielleicht einige Aderlässe ausgenommen) Ihr Ur- und Normalblut noch in sich tragen; ein überhaupt und auch für Hahnemann sehr wichtiger Umstand. Nichts hat den Feldmarschall Schwarzenberg so verwüstet, als die 1200 Blutegel.

Wenn aber Hahnemann nicht alles vollendete, so ist meine Ueberzeugung

drittens, daß die Kraft Gottes an Ihnen verherrlicht werden wird, und daß das Gebet, wenn es über Sie kommen wird, seine ganze Kraft an Ihrer schönen und berufenen Seele beweisen muß. Europa bedarf Ihrer noch lange Jahre, und die Sache Gottes kann schwerlich ein so vorzüglich vorbereitetes Werkzeug entbehren. Es wird Sie ganz aufrichten, aber Hahnemann, der demüthigste Prieser wenn auch nur der Natur, wenn auch nur des unbekannten Gottes, kann Sie in die Verfassung setzen, wo Sie selbst unter dem höchsten Beistande das Werk vollenden werden.

Was Hahnemann antworten wird, davon weiß ich natürlicherweise heute noch nichts. Donnerstag oder Freitag wird die Antwort anher gelangen und unmittelbar an Sie befördert werden. Nachher gehe ich, was ich bis jetzt wegen der Meßgeschäfte nicht konnte, auf einige Tage nach Köthen, um Hahnemann vollständig au fait zu setzen. Durchblättern Sie <348:> doch gefälligst, wenn Sie medicinischer Bücher habhaft werden können, sein Organon, oder noch lieber seine materia medica. Sie werden vieles an diesem Märtyrer großer und verkannter Naturwahrheiten bewundern müssen, auch wenn er Ihnen nicht persönlich werth seyn sollte.

Nun aber, was meinen Sie zu Görres „Europa und die Revolution,“ zu diesem erst Newton der Basküle, der polarisirenden, gegensätzischen Basküle, dann (in den letzten drei Abschnitten) cassandrischen Zornteufel gegen alle Autoritäten der Welt, ja gegen die bloßen Begebenheiten als solche? Haben Sie etwas Aehnliches gesehen, einen solchen pantheistischen, indifferenten Anfang bei einer solchen Parteiwuth in der Fortsetzung und am Schlusse? Jenes allbesänftigende Oel neben so übersaurem Essig! Die Kritik dieses Buchs könnte mich reizen. Adieu! Gott behüte Sie, mein zärtlich geliebter Freund!

Adam Müller.