Briefwechsel

206.

Wien, 20. August (nach Baden bei Wien).

Ich kann die gelegentlichen Unterbrechungen unseres Umgangs, da sie in meiner eigenen Störrigkeit ihren Grund hatten, wohl bereuen, aber nie beklagen, da das Glück, Sie wieder zu erobern, fast mit keinem andern zu vergleichen ist. Zugleich erkenne ich mich selbst und das, was sich in mir gebessert, wie an einem lang entbehrten Maßstabe deutlicher. Sie waren von jeher ruhiger, gleichförmiger und klassischer als ich, und doch so neu und sanft verändert bei jedem Wiedersehen, daß die Neigung bei allem meinem Ungestüm in Ihnen ihre volle Rechnung fand. Nun erkennen Sie auch das, liebster Gentz, daß, wie lange getrennt, die verschiedenartigsten Wendungen des Lebens niemals in einem von uns einen innerlich widersprechenden Gedanken, oder in mir eine eigentliche Unart des Geistes erzeugen konnten, sondern daß wir uns nach wenigen Stunden, welche die Entwicklung des Gesprächs bedurfte, mit einander in einer klaren Höhe befanden, wo das ganze Gebiet unserer Sorgen und Hoffnungen frei und doch einmüthig erkannt wurde. Deßhalb ist mir das Gespräch in Gegenwart Pilats über den Gehorsam unvergeßlich.

In der Fülle der zärtlichsten Zuneigung verlasse ich Sie auch über meine vornehmsten Sorgen beruhigt.

Ich verberge nicht, daß ich unter diesen Sorgen auch die um die Vollendung Ihres Glaubens, und frei gesagt, um die Rettung der schönsten und treusten Seele, die zu erkennen mir vergönnt war, zähle. Sie schienen mir in einem stillen, empfangenden Zustand; die irdischen Gegenstände der Arbeit wie des Genusses, welche von einer so lebendigen Natur mit Heftigkeit ergriffen werden mußten, waren alle in die natürlichste Distanz zurückgetreten, ohne Verurtheilung, ohne Verdammniß, ohne Entsagung, wie es jedem geringeren begegnet wäre. Ihr Geist hatte sich Raum gemacht für das Empfängniß Gottes, ohne das Fleisch zu verwerfen, dieses geweihte Mittel der Offenbarung. So habe ich Sie gefunden und bin auch dieser Sorge entledigt.

Nehmen Sie also eine Weissagung für meinen herzlichen Abschiedsgruß. Die beiden ersten Abschnitte unseres Glaubens, welche den Vater und Sohn betreffen, bedürfen für Sie keiner Bestätigung, aber es wird <343:> eine Stunde kommen, wo der dritte, welcher den Geist angeht, insbesondere: – Gemeinschaft der Heiligen, Ablaß der Sünden, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben, Amen – in seiner unendlichen Süßigkeit mit dem Gefolge der Sehnsucht nach allen Sakramenten Sie ergreifen wird, um Sie nie wieder zu lassen. Ich kenne Sie: bei Ihrem Abendgefühl kann ich an nichts als Abendmahl und verwandte Dinge denken. Lassen Sie mich in künftigen Briefen vollständig meine Liebe zu Ihnen zeigen.

Ihr

unveränderlicher Freund

A. Müller.