Briefwechsel

196.

Leipzig, den 5. Juli 1820.

Mein verehrtester Freund!

Nach vollendeter Herstellung meiner Frau ist nunmehr meine erste Pflicht, Ihnen für alle erwiesene Güte, besonders für die Erquickung der Meinigen in ihrer Krankheit, innigst zu danken. Eine besondere Beruhigung ist für mich, daß ich an diese Reise und an Sie völlig vorwurfsfrei denken kann. Niemals habe ich so viele Gelegenheit gehabt, Ihnen meine treue Anhänglichkeit zu beweisen, und gerade unter so ungünstigen <317:> Umständen, die Ihnen nicht einmal gestatten, es anzuerkennen. Die Zeit wird mich in Ihrem Andenken rechtfertigen.

Der Aufenthalt der Schwarzenbergischen Familie hat meine hiesige Existenz verändert; der Besuchenden sind viele, und daher täglich gesellschaftliche Rücksichten zu beobachten, von denen sonst nicht die Rede war. Der Zustand des Fürsten ist erträglich. Die natürlichen Funktionen des Körpers, Oeffnung ohne künstliche Mittel, einiger Schlaf und vieler Appetit scheinen wirklich durch Hahnemann hergestellt. Das Hauptübel ist die Nervenschwäche; als ich hier ankam, fand ich den Fürsten von Zeit zu Zeit ohne alles Gedächtniß; er konnte z.B. bei Tisch die Worte nicht finden, um die Schüssel zu bezeichnen, von der er essen wollte. Der Fürst Joseph, der mit mir zu gleicher Zeit ankam, war höchst bestürzt über seinen Zustand. Hahnemann erklärte indeß diesen Rückfall für unbedeutend; er habe, sagte er, einen kleinen Mißgriff in der Arznei gemacht; am fünften Tage werde sich alles wieder in Ordnung setzen. Am bezeichneten Tage fand sich der Fürst ausnehmend wohl; Graf Paar, Doctor Sacks und alle Adepten des Hahnemann triumphirten. Jedoch hat es seitdem wieder manchen Wechsel gegeben. Der Fürst Joseph ist am Sonntag mit der Ueberzeugung abgereist, daß der Zustand eher verbessert als verschlimmert sey. Gestern Nachmittag, wo ich den Fürsten zuletzt gesehen, fand ich seinen Geist bedeutend freier; er konnte einzelne Umstände der Schlacht verständlich erzählen. Leider ist das Wetter seit acht Wochen sehr schlecht, die Wohnung eng und unbequem, und außer fremden Besuchen, zweimal die Woche Theater (welchem der Marschall von Anfang bis zu Ende fast immer wachend beiwohnte) und vielen Spazierfahrten, an keine Zerstreuung zu denken. Hahnemann erklärt fortdauernd seine bestimmte Hoffnung, den Fürsten herzustellen, so daß er seinen Geschäften vorstehen könne, wenn auch an volle und feste Gesundheit nach dem Ruin, welchen die allopathischen Aerzte angerichtet, nicht zu denken sey. In drei Monaten von jetzt an erwartet er eine große und bedeutende Krisis, so also, daß der Winter herankommen könnte vor der Abreise des Fürsten. Die sämmtlichen hiesigen Aerzte sind in Wuth gegen Hahnemann, und ich höre von nichts als homöopathischer und allopathischer Methode. Das Unglück ist, wie immer, daß ein versäumter Theil der medicinischen Doktrin, welchen Hahnemann repräsentirt, par revanche alleinherrschend werden wird, daß also Freunde und Feinde in gleichem <318:> Unrechte stehen. Daß man einzelne Krankheiten durch gegen sie militirende, ihnen feindselige Mittel bekämpfen, also allopathisch curiren müsse, ist eben so gewiß, als daß andere Krankheiten nur homöopathisch, nämlich durch dasjenige ähnliche oder verwandte Mittel, welches im gesunden Zustande ähnliche Krankheiten hervorbringt, geheilt werden könne, z.B. der Frost in den Gliedern mit Schnee, ein kaltes, durch unmäßigen Genuß der Melone hervorgebrachtes Fieber nur mit Melone, das Scharlachfieber vielleicht nur mit Belladonna, weil die Belladonna im gesunden Zustande eine dem Scharlachfieber ähnliche Krankheit hervorbringt. Beide Kurmethoden sind also gleich nützlich und achtungswürdig; es handelt sich nur um das Wann? und Je nachdem. Gewiß ist, daß der mehr als 60jährige Hahnemann einen großen ärztlichen Instinkt hat, und in den meisten Fällen sehr gut zu wissen scheint, wo seine Methode hingehört, wenn er auch in theoretischer Hinsicht sehr einseitig die allopathische Methode ganz verwirft. Er ist als Chemiker sehr berühmt, seine Weinprobe und der Mercurius Hahnemanni werden in allen Apotheken Europas dispensirt. Er selbst aber und sein System zielt auf den Untergang aller Apotheken, und daher die ganz besondere Wuth, mit welcher er verfolgt wird.

Das ganz Eigenthümliche seines Systems und seine wesentlichste Entdeckung nämlich ist, daß das homöopathische Mittel, wie er sich ausdrückt, nicht chemisch, sondern dynamisch auf den Organismus wirkt, weil ein Infinitesimal desselben die ganze Wirkung hervorbringt und es schlechthin auf die Masse gar nicht ankommt. Er läßt einen Tropfen des homöopathischen Mitels, z.B. der Belladonna im Scharlachfieber, und der Gifte in den meisten Krankheiten, in ein Glas Wasser fallen, rührt es um, nimmt von dieser Mischung wieder einen Tropfen und thut mit diesem in einem andern Glas Wasser deßgleichen u.s.f.; demnach kömmt also nur der billionste Theil des Mittels zur Anwendung. Ich erzähle die Sache, wie sie ist, ohne Urtheil. Hahnemann erklärt, daß es nur auf den dynamischen Anstoß des Mittels, keineswegs aber auf dessen Größe ankomme. Die materielle Mehrheit des Mittels würde nach ihm nur die gute dynamische Wirkung desselben verderben; so wie er behauptet, daß der Massengebrauch der China im Fieber allen Effekt verdirbt, den der dynamische Gebrauch hervorbringen würde. So hat also die ganze Hahnemann’sche Apotheke in einem Hutkopf Platz, der Arzt dispensirt selbst, <319:> und aus diesen beiden Gründen steht das System in offenem Kampfe mit aller medicinischen Polizei, allem Receptschreiben und allen Apothekern der Welt.

Verzeihen Sie das vielleicht langweilige Detail; aber diese Sache hat ein augenblickliches Interesse, und ich war Ihnen umständliche Relation schuldig.

Adam Müller.