Briefwechsel 179. Vages Raisonnement, in müßigen Augenblicken zu lesen. Ihre klaren und musterhaften Grundlinien kann ich nicht ohne wirkliche Ehrfurchtsbezeugung zurückgehen lassen. Vor diesem Reichthume bei solcher Mäßigung und Selbstbeherrschung des Talentes, vor dieser praktischen Fülle und Umsichtigkeit auf einem so beengten Standpunkt und in so wenigen Zeilen, endlich aber vor der politischen Gegenwart, vor der Befestigung dieser Schrift nach allen möglichen Seiten des Angriffes, müssen die Gegner verstummen, wie ich mich davor beuge. Es ist in jeder Rücksicht ein Meisterstück. Gut! ein großer Schritt zur Abwehr des Bösen, ein entscheidender für den Augenblick wäre gemacht, wenn diese Proposition unverkürzt durchginge. Aber ich frage Sie, kann man der theils durch natürliche, theils durch künstliche, theils durch unnatürliche Mittel aufgeregten Thätigkeit des Geistes Grenzen anweisen, ohne ihr das positive Gut zu zeigen, dem dieß Opfer gebracht worden ist? Kann man der Presse irgend eine Grenze anweisen, so lange der Grundsatz: daß aus dem Kampfe der Geister erst politische Wahrheit und wahre Erkenntniß hervorgehen solle, <296:> und daß in dieser Rücksicht die gesammte Vergangenheit unmündig gewesen, unwiderlegt bleibt? Jede abwehrende Maßregel bleibt für den, welchen sie trifft, so lange ein Akt der Gewalt, bis er überzeugt wird, daß ein positives Gut höherer Ordnung durch die Abwehrung gerettet wird. Daß die Erhaltung der regierenden Dynastien und der an ihre Existenz geknüpften Ordnung ein solches Gut sey, leugnen die Gegner, weil man alle Consequenzen des Begriffs der Volkssouveränität, des falschen Natur- und Staatsrechts, die in den Augen jener Leute die eigentlichen dii majorum gentium sind, ruhig bestehen läßt. Kurz, wer die Geister in so starken Formeln, als in diesen Grundlinien geschehen, zu bannen unternimmt, der muß den Geist, aus dem er solche Thaten thut, deutlich zu erkennen geben; er muß: 1) den Vorrang der positiven und körperlichen Doktrinen, worauf die europäischen Throne seit Jahrtausenden gegründet sind, vor den philosophischen Theorien, denen zu gefallen man die Preßfreiheit will, die Kühnheit haben auszusprechen: er muß 2) die realen Theilnehmer der bürgerlichen Ordnung von Europa, die possidenti, die Hausväter und alle die, welche mehr am Herzen tragen, als das augenblickliche Geld und die Vernunft des Tages zu befriedigen vermag, um seine tam antiqua et tam nova Fahne zu versammeln wissen; er muß 3) der positiv guten Sache und ihren Vertheidigern Berührungen und Tribünen zu verschaffen, hohnlächelnd setze ich hinzu, er muß dafür zu sorgen wissen, daß sie nicht vor allen andern die zuerst geächteten sind, und daß sie nicht am allerempfindlichsten von dem Censurbann getroffen werden. Wir stehen an der Grenze, wo es ohne Vereinigung über die positive Lehre nicht mehr abgeht. Fehlte an dieser Ueberzeugung in mir noch ein Loth, so hat Ihre treffliche Arbeit einen Centner in die Wagschale geworfen. Warum erfreut sich die gute Sache keines einzigen Organs, wie Sie sehr richtig bemerken? Weil die Regierungen die positiven moralischen Wahrheiten, die ihren Privatgelüsten widersprechen dürften, noch mehr zu scheuen haben, als die philosophischen Chimären, die doch wahrscheinlicher Weise nur ihr Haus und ihren Staat bedrohen, während sie selbst ad tempus vitae sich durch ihre Civilliste gedeckt glauben. <297:> Verzeihen Sie den Eifer und die Feierlichkeit. Ihre Arbeit hat mich exaltirt. Den 7. August 1819. Adam Müller. |
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