Briefwechsel

177.

Leipzig, den 22. Juni 1819.

Ihr Schreiben vom 16. Juni, unter Anlage des Resumé, habe ich, zum großen Ruhme der ordinären Postgelegenheit, gestern am 21. Juni erhalten und beschleunige die Antwort, damit Sie sehen, wie hoch ich das Vergnügen einer solchen ruhigen, gründlichen und praktischen Verhandlung mit Ihnen anschlage.

Der Schluß Ihres klaren und auf den dritten Zuhörer des Gesprächs so überaus glücklich berechneten Resumé’s zeigt nicht nur, daß wir beide für alle Folgezeit auf demselben gemeinschaftlichen Terrain der Doktrin stehen, also die unerläßliche Vorbedingung jeder Diskussion zwischen uns in seltener Festigkeit vorhanden ist, sondern daß sich auch dieser Boden unserer Verständigung täglich und stündlich erweitert und verbreitet.

»Allgemeine Wiedergeburt der Staatsformen, der Gesetzgebung, der Wissenschaften und der Lehrsysteme« – ist der gemeinschaftliche Zweck. Daß das »Uebermaß der Verwirrung« sie hervorrufen werde, ist zwischen uns zweifelhaft, da ich mich unbedingt gegen die Ansicht erkläre, als ob jemals aus bloßer Gährung eigentliche Vegetation, aus bloßer Reibung die Wahrheit, aus bloßer Concurrenz der Reichthum, kurz aus dem bloßen Chaos die Ordnung hervorgehen könne. Wenn ich mich also nicht dabei beruhigen kann, den aus der Verwirrung hervorgehenden Wunsch der Wiedergeburt abzuwarten, sondern davon ausgehe, daß Sie, daß der Fürst Metternich, daß ich verbunden und berufen sind, unmittelbar <292:> der ewigen, ohne unser Zuthun vorhandenen Wahrheit das Wort zu reden und der wahren Lehre öffentlich die Ehre zu geben, so sind wir doch darin ganz einverstanden, daß die steigende Verwirrung der Weltverhältnisse, daß die Constitutionsraserei, daß das Zeitungsgeschrei und alle Tollheiten und Abgeschmacktheiten des Jahrhunderts uns am letzten Orte in die Hände arbeiten müssen; einig ferner darin, daß die unverrückte Vertheidigung des Positiven gegen die Spekulation – in welcher Rücksicht ja sogar Humboldt nach seinem Briefe unser Alliirter werden zu wollen scheint – die sicherste praktische Maßregel ist, um dem Gegebenen, dem Eröffneten und somit dem Geoffenbarten und dem Glauben des Gehorsams, also der Wiedergeburt den Weg zu bahnen.

In dieser letzteren Rücksicht nun bitte ich Sie einige Thatsachen nicht zu übersehen, welche unserem Cabinette Muth machen könnten, für die positiven Wissenschaften und deren Vorrang (d.h. für Daseyn und Erhaltung aller Regierungen überhaupt) öffentlich aufzutreten. Betrachten wir unter den einzelnen wissenschaftlichen Fakultäten die uns zunächst liegende, die juristische. Vor 15 bis 20 Jahren waren die Lehrer des Naturrechts die eigentlichen Führer dieser Fakultät; jetzt steht auf den berühmtesten Universitäten das Naturrecht, qua disciplina, überall im Schatten. Fragen Sie nach den Lehrern, die allgemein mit Achtung genannt werden, so nennt man Ihnen Savigny, Hugo, Hauboldt und Thibaut, sämmtlich Civilisten, historische Rechtsforscher, von denen der erste den Beruf der Zeit zur Gesetzgebung überhaupt, der zweite dagegen von jeher die Möglichkeit des Naturrechts geläugnet hat und der dritte, Hauboldt (der beste Lehrer von allen), sogar noch vom jure divino spricht. Lauter positive Leute, aber abgöttisch verehrt von vielen tausend Studenten; spinnefeind der sg. Philosophie, wie alle gründlich positive Gelehrte vom Fach, aber scheu vor ihr, weil sie über die Principien der Dinge und über Gott keine Auskunft wissen; ja, hier und dort nachgiebig gegen die Philosophie, gegen den Zeit- und Studentengeist, weil sie von oben herab malplacirt sind, weil eben ihr Vorrang nicht anerkannt ist und ihnen ein unnatürliches, allgemeines Streben nach politischer Bedeutung aufgedrungen wird, welches nun auch den ersten, Savigny, schon in den preußischen Staatsrath geführt hat. – Nun die praktischen Juristen. Ich habe keinen Ausdruck dafür, welch eine orakelhafte Wirkung eine kluge, unter wahren Lobeserhebungen der ächten Philosophie und Kritik vorgebrachte Erinnerung Oesterreichs <293:> an den Vorrang der positiven Wissenschaft auf diesem Felde haben könnte. Lassen wir uns durch einige Zeitungskläffer, Darmstädter und anderweite nichtswürdige Advokaten über den wahren Stand der Sache nicht verblenden. Die wirkliche, amtirende Justiz schäumt und wüthet an allen Enden von Deutschland gegen die Theorien, gegen die Gesetzgeberei der Ministerien des Innern, und weil das juristische Studium so positiv und historisch geworden, als es vor zwanzig Jahren spekulativ und naturrechtlich war, so geht der ganze Zug der neuangehenden Beamten auf die juristische (mehr positive) und nicht auf die politische (mehr theoretisirende) Seite hinüber. Dergestalt wird nun, allem Anschein zum Trotz, mit jedem folgenden Tage die positive Partei in unseren Staaten größer. Betrachten Sie den Berliner Adreßkalender: 102, schreibe einhundert und zwei Refendarien und Auskultatoren des bloßen Kammer- und Stadtgerichts, und nur sechs bei der ganzen Potsdamer Regierung. Vor zwanzig Jahren waren umgekehrt die Kameralstellen so überhäuft als die Justizstellen jetzt.

Je positiver die Justiz wird, um so mehr wendet sich der Streit von den Gesetzen und Gesetzbüchern hinweg auf die ältere und wesentlichere Frage von der Gerichtsordnung, da Möser wohl recht hat zu sagen: der Staat könne wohl ohne Gesetze, aber nicht ohne Gerichtsordnung, wohl ohne wirkliches Recht, aber nicht ohne förmliches Recht bestehen. Daher der große Streit über das mündliche Verfahren, bei welchem Sie wahrscheinlich sich mit ebenso behaglicher Unentschiedenheit neutral verhalten wie ich. Als ein Axiom der Revolution verwerfen wir das mündliche Verfahren beide; als eine der erhabensten politischen Lokalquästionen behalten wir uns die weitere Explication unseres: Je nachdem! für den Fall einer besondern Anwendung vor, freuen uns aber, daß in dieser Angelegenheit, wie der Streit zwischen Kircheisen und den Rheinprovinzen zeigt, nichts auf dem Wege der philosophischen Faseleien auszumachen ist. Schon jetzt stehen beide Hauptparteien durchaus auf positivem Grunde. Beide sind für eine solche Erklärung Oesterreichs zu Gunsten der positiven Wissenschaft, als wir meinen, im hohen Grade empfänglich.

Criminalwesen. Gewiß ist es, daß mir einen guten Dienst geleistet hat, wer die Anekdote in das Oppositionsblatt gebracht hat, daß ich an der Tafel des Prinzen von Hessen die Folter vertheidigt hätte. Alle Criminalinquirenten sind auf meiner Seite und sehen, daß ich von der <294:> Sache etwas verstehe. Die Justiz steht im eigentlichen Verstande stille, so weit das philosophische Criminalrecht reicht. In diesem Punkte ist das Bedürfniß des Positiven am mächtigsten und der Fualdes’sche Proceß hat vielen Unparteiischen die Augen geöffnet. Feuerbachs Credit ist so zusammengesunken, daß alle Mühe, seinen eigenen Sohn in seine Fußtapfen zu bringen, vergeblich war, und derselbe, gleich nach seiner Ankunft in Erlangen, der Kanne’schen Exegese des alten Testaments zulief und auf die Theologie umsattelte.

So stehet es im Gebiete der Jurisprudenz, und meinen Sie nicht, daß wir eine mächtige Partei versammeln, wenn wir auf dem Felde der Medicin der Erfahrung und Ueberlieferung gegen die Naturphilosophen die Hand reichen?

Und in der Theologie, sehen Sie nur unter aller falschen Mystik die zunehmende Partei des Offenbarungsglaubens! Werfen Sie nur einen Bick auf die neueste Schrift des Harms in Kiel: daß es mit der Vernunftreligion nichts sey, insbesondere p. 25 und am Schluß, und Sie werden zugeben, daß wir hier mit ganzen Leuten zu thun haben, mit Charakteren, die nicht nur tausende von Philosophen und Zeitungsbellern aufwiegen, sondern uns noch obenein ein Publikum von Hunderttausenden zuführen.

Kurz, mein Freund, ich lebe und träume nur in der Erklärung, die Oesterreich machen soll, mit einiger Feierlichkeit machen soll, und die Sie schreiben müssen. Für heute leben Sie wohl

Adam Müller