Briefwechsel

176.

Wien, den 19. Juni 1819.

Wenn ich nicht wüßte – fast möchte ich stolz genug seyn, um zu sagen aus eigener Erfahrung – daß man nie demüthiger ist, als wenn man etwas Vortreffliches hervorgebracht hat, so würde ich mir das Schreiben, womit Sie Ihre neueste Schrift begleiten, kaum erklären können. Sie sehen mein Mißfallen voraus, weil diese Schrift nicht unmittelbar praktisch ist? Aber wo steht denn geschrieben, daß ein Geist wie der Ihrige immer nur für die unmittelbare Praxis arbeiten soll? Und wie könnte denn mir einfallen, darüber zu zürnen, daß Sie sich, um die gräulichsten praktischen Irrthümer von Grund aus zu bekämpfen, über die Welt, oder besser, in den Mittelpunkt der Welt stellen, und mit wahrhaft apostolischer Erhabenheit den Ur-Widerspruch und die Ur-Krankheit in allem irdischen Denken und Treiben enthüllend, auf das einzige, ewige Vereinigungs- und Versöhnungsmittel hinweisen, welches keine der streitenden Potenzen verwerfen darf, wenn auch keine noch den ernsten Willen hat, es zu ergreifen?

Sie sprechen ferner von der Form. Sie beziehen sich sogar auf meine Schreibart. Ja, liebster Freund, wenn man über unmittelbar praktische, gesellschaftliche, im höheren Sinne des Wortes gemeine Gegenstände spricht und einigen Verstand und Geschmack besitzt, dann ist es so schwer nicht, eine gewisse Zierlichkeit mit dem Ernst zu verbinden. Aber erwägen Sie doch, was Ihr Thema ist! Uebrigens finde ich, daß Sie noch nichts zugleich einfacheres und strengeres, selbst schulgerechteres geschrieben haben, als diese Abhandlung.

Endlich vermeinen Sie sogar, es könnte Ihnen Krug oder andere Hechte dieser Art mit ihrem Lärmgeschrei bei diesem oder jenem schaden. Diese Besorgniß beweist nur, daß Sie selbst die wahre Größe Ihres Werkes nicht ganz kennen. Auf dem Punkte, wo Sie mit diesem Werke stehen, kann kein Pfeil, weder von der Seite, noch von unten (und mit <289:> oben hat es nichts zu bedeuten) Sie treffen. Keiner von denen, die sich Philosophen ex professo nennen, kein Schelling, kein Steffens, kein Schleyermacher &c. wird Ihre Schrift antasten; ich glaube sogar, die meisten aus dieser Classe werden Ihnen, gutwillig oder gezwungen, huldigen. Der Pöbel aber wird vor solchem Tiefsinn und vor solcher Heiligkeit Respect haben; und sollte wirklich ein Lotterbube sich daran vergreifen, so wird es, wie Sie mir sicher glauben können, nicht anders wirken, als wenn er mit Steinen nach dem Monde wärfe. Discussionen wird diese Schrift nicht veranlassen, vielmehr ein allgemeines Verstummen, bei einigen in Liebe, bei andern in Furcht, bei den meisten in Verzweiflung. Uebrigens ist sie weit weniger für uns als für die noch Unglücklicheren, und darum vielleicht Besseren, die nach uns kommen werden, geschrieben.

Für uns, für die Gegenwart, kann sie in einer Rücksicht Schaden stiften. Die Revolutionsmänner werden uns, ihren Gegnern, sagen: „Hört, was eines eurer großen Orakel lehrt! Unsere Ansicht vom Staate, vom Volkswillen, von der Volkssouveränität &c. verwirft er freilich, und das mit großer Verachtung; die eurige aber behandelt er nicht besser. Er verlangt eine dritte, von der ihr aber so fern seyd, als wir, und die beide nicht so bald realisiren werden. Mithin, Irrthum gegen Irrthum und Verderben gegen Verderben, laßt uns bei dem Unsrigen bleiben!“ Dieß ist vielleicht die einzige, in einem gewissen Sinne antipraktische Richtung Ihrer Schrift. Die Revolutionärs werden darüber frohlocken, weil sie, obgleich gehörig mit Füßen getreten, doch den Vertheidiger der alten Ordnungen in denselben Staub herabgezogen sehen werden. Dieß kann Sie nicht als Tadel treffen; Sie konnten die höheren Wahrheiten nicht nach der Bequemlichkeit Ihrer Freunde zuschneiden; Sie mußten die Hand an die Wurzel legen, ohne viel zu fragen, was unter Ihren Streichen fiel. Gewiß ist aber, daß Sie durch Strafgerichte dieser Art uns andern armen Teufeln die Arbeit und das Leben sehr sauer machen. Wir sollen nun den äußern Feind bekämpfen und zugleich uns selbst von Grunde aus reformiren. Mein langsamer und temporisirender Kopf erliegt unter dieser Aufgabe; ich ehre darum aber nicht weniger den Ihrigen, der sich durch keine Schwierigkeit abschrecken läßt. Fais ce que tu dois, advienne que pourra!

Dem Fürsten werde ich von Ihrer Schrift Meldung thun; nicht mit <290:> Bezeichnung einzelner Stellen; zum Anstreichen ist sie nicht gemacht; sondern indem ich ihm meine Meinung über das Ganze so bestimmt sage, als ich sie Ihnen selbst gesagt habe. Von Einzelheiten ist bei einem so tiefen und strengen Raisonnement gar nicht die Rede. Man muß es durchaus anerkennen oder durchaus verwerfen.

Ich erhielt Ihren Brief heute um 1 Uhr. Ich mußte den Courier nach Bukarest abfertigen; erst um 5 Uhr wurde ich frei und ging nun an die Lektüre. Ich habe die Schrift also erst einmal gelesen und spreche hier, zwei Stunden nach der Lesung, von dem Eindruck, den sie auf mich gemacht hat. Weiter zu gehen wäre für heute gewagt. Ich hoffe, wir werden noch mehr als einmal darauf zurückkommmen.

Haben Sie denn die englischen Parlamentsdebatten (in englischen Blättern nämlich, denn was die andern davon geben, bedeutet nicht viel) neuerlich verfolgt? Was haben Sie zu Peel’s und anderer Ministeriellen feierlichem Uebertritt zur Lehre des Bullion-Committee von 1811 gesagt? Zu dem förmlichen, mit Bitterkeit ausgesprochenen Bruch der alten Verbindung zwischen dem Ministerium und der Bank? Was zu dem endlich eingestandenen permanenten Deficit von 13,500,000 L.? und zu der bevorstehenden Einziehung des Tilgungsfonds bis auf 2 Millionen, die durch neue Taxen auf 5 Millionen erhöht werden sollen? was ferner zu der unerhörten Discussion über die Bill zur Verhinderung des Dienstnehmens bei den amerikanischen Insurgenten, bei welcher Gelegenheit sich der eigentliche Geist der Opposition im neuen Parlament so furchtbar offenbart hat, und Macdonald u.A. Reden gehalten, die der verwegenste Liberale in der französischen Kammer in dieser Stärke nicht geliefert hätte? Es sieht wirklich sehr trübe aus auf Erden. Alles, was uns ehemals noch belebte und aufheiterte, fällt zusammen. Sehr rührend war die Scene, wo der alte Peel (des Ministers Vater) im Namen der Londoner Kaufleute gegen die Maßregeln des von seinem Sohn dirigirten Ausschusses protestirte und die bittere Bemerkung machte, so weit sey es nun gekommen, daß auf der einen Seite nur noch der verlassene Schatten von Pitt stehe – und ihm gegenüber das jetzige Ministerium, mit Hunt, Wooler, Jackson &c. verbunden, um die letzten Ueberreste seiner Maßregeln zu vertilgen!

Wenn Leipzig ein Gewitterknoten ist, so glaube ich Wien ist ein wahrer Anti-Knoten, ein Zerstreuungspunkt für alle Gewitter. Lange <291:> Erfahrung hat mich endlich überzeugt, daß es hier und in der nächsten Nachbarschaft nie zu einer großen Explosion kommen kann. Pilat ist in wahrer Verzweiflung darüber und rächt sich an mir, indem er mir fast täglich im Beobachter irgend eine Mordgeschichte von Gewittern an andern Orten vorsetzt. Da wir indessen beide, obgleich aus entgegengesetzten Gründen, lebhaften Antheil daran nehmen, so werden Sie uns sehr verbinden, wenn Sie uns zuweilen einige Details von Leipziger Donnerwettern mittheilen. Leben Sie wohl!

Gentz.