Briefwechsel

174.

Leipzig, den 8. Mai 1819.

Ihrer Aufforderung gemäß übergebe ich Ihnen in dieser Correspondenz alle meine etwaigen Materialien zu gefälliger Weiterbeförderung, wo Sie es der Mühe werth achten. Nach der Messe werde ich das erste Paket sous cachet volant mit Broschüren und Bericht an die Staatskanzlei abgehen lassen und Ihnen unter Einem davon Avis geben. Das Wesentlichste behalte ich meinen direkten Briefen an Sie vor, da das etwa Erhebliche als Bestandtheil Ihrer Depeschen wirksamer an den Fürsten gelangen wird.

Ich pflichte aus ganzer Seele allem bei, was Sie in Ihrer unvergleichlichen Kritik des de Pradt über Anlage und Zweck des dermaligen völkerrechtlichen Systems von Europa sagen, und behalte mir das Weitere über diese glänzende Arbeit für den Schluß meines Briefes vor. Allerdings ist „die Zuflucht in der Noth, ist der Ruhepunkt“ gefunden und vorhanden. Ich bin der Letzte, der die keusche Enthaltsamkeit der Negociatoren von Aachen in Betreff der unendlich vielen Specialien, die sich ihrer Regulirung darboten, tadeln wird. Das Nothwendigste war, den europäischen Körper auf seine alten Füße, auf Gerechtigkeit und sittliche Gesinnung zu stellen, das reine Princip seiner alten Gesundheit zu wecken und alles Besondere der Selbsthülfe dieser vindicirten besseren Natur zu überlassen.

Aber das dürfen die Väter von Aachen nicht vergessen, daß sie durch Gott und ihr Gewissen zur Controle dieser Selbsthülfe verpflichtet und daß Sie verantwortlich sind, wenn diese edlere Selbsthülfe des gesunden Princips in gemeine Selbsthülfe, in den Krieg aller gegen alle ausarten sollte. Der neue Körper von Europa bestehet nicht, wie der eben zerfallene, aus bloßen Regierungen und Staaten. Welche Puissancen anderer Art sind hinzugekommen? Ich werde mich hüten, die sg. politischen Parteien, die scheinbaren Agglomerationen der öffentlichen Meinung für <285:> bleibende Wesen zu halten. In keinem Zeitalter hat die Verstandesmeinung weniger gegolten oder vermocht als in dem unsrigen; niemals hat man weniger gehört und sich dem Einflusse der Ideen hingegeben.

Aber die Gewalt der physischen Bedürfnisse, der Drang der Geld- und Schuldverhältnisse, der Mangel positiver Lehre und die Hungersnoth nach Gottes Wort (wie der Prophet Amos sagt) – Uebel, denen die einzelnen Regierungen abhelfen weder können, noch wollen, diese setzen einzelne Menschenklassen in den Fall, sich, ohne Rücksicht auf Territorialgrenzen, aneinander zu schließen und, was ich Conföderationen nenne, zu bilden. Je realer das Bedürfniß ist, aus dem sie entspringen, und je weniger die einzelnen Regierungen dagegen zu helfen wissen, um so nothwendiger wird die aufmerksamste Surveillance abseiten der Begründer des neuen Europa. Sie wissen zu genau, wie innerhalb des großen Cadres von Europa, den die Congresse aufgestellt, das Meiste der freien Entwicklung der Kräfte, also anständiger Selbsthülfe, überlassen ist, und wie wenig sich die Regierungen mit ihrer Finanz und Polizei Rath wissen. Die Regierungen sind nur wichtig durch ihre Armeen; daß diese Armeen in letzter Instanz dem System, welches in Aachen definitiv festgestellt worden, angehören, und daß sich das Princip des unbedingten, persönlichen Dienstgehorsams der Armeen (durch Wrede’s unverkennbar großes Verdienst, was man auch quoad formam über die Adressen der bayerischen Regimenter und dann noch insbesondere über die Protestation der Berliner Landwehr in den auswärtigen Zeitungen denken mag) neuerdings scharf abschließt, von allem übrigen Industrie- und geistigen Wesen aussondert, betrachte ich als einen der größten und wirksamsten Fortschritte zum Guten.

In allen andern Administrationsrücksichten sind die Regierungen leider, und eingeständlich, zu bloßen Parteien herabgesunken und erwarten nun den Gegner, der sich ihnen gegenüberstellen wird. Daß es die sogenannten Kammern oder constitutionellen Autoritäten in dem Zeitsinne des Wortes nicht seyn werden, ist gewiß. In den Verhandlungen der bayerischen Kammer z.B. finde ich, die eigentlich revolutionären, also sehr realen Regungen abgerechnet, nur die auf Bildung der Landräthe gerichtete Motion wesentlich. Hier hat sich offenbar das Urbedürfniß angemeldet; nämlich das der Conföderation der lokalen und provinziellen Interessen, eine Wirklichkeit, vor der die Behr-Hornthal’schen <286:> und anderweitigen Constitutions-Schäkereien von selbst in ihr Nichts zerfallen.––

Vorläufig kommt alles darauf an, wo möglich eine Aristokratie des Geistes in Deutschland zu begründen, die große Mehrzahl der wahren Gelehrten auf irgend eine unauffallende Weise zu vereinigen, einen Mittelpunkt wenigstens der anständigen, wenn auch noch nicht der guten Gesinnung zu stiften, wozu allerdings mit den Jahrbüchern ein höchst würdiger Anfang gemacht ist. Sie glauben nicht, mit welcher Ehrerbietung man in Berlin und andern Orten des nördlichen Deutschlands davon spricht und wie der mildfeste Ton dieses Journals imponirt.

Glauben Sie gewiß, die deutsche Jugend ist, wie sie Beckedorff beschrieben, viel ernsthafter und nüchterner, auch viel sittlicher, als man in Oesterreich denkt. Ich habe hier Recht auf eine Stimme, weil ich auf der frequentirtesten Universität von Deutschland lebe. Wie empfänglich würde sie für wahre positive Wissenschaft und für die ritterliche Idee der Freiheit in dem Gehorsam seyn, wenn ihr von den allgemeinen, philosophischen und politischen Lehrstühlen herab irgend etwas anderes als leere Begriffe und die gemeine, revolutionäre Freiheit geboten, wenn sie zur Liebe, anstatt, wie seit Napoleons Zeit bis jetzt, zum Hasse erzogen würde!

Daher scheue ich mich nicht zu sagen, daß es Pflicht der großen deutschen Mächte ist, für eine Vereinigung der besseren deutschen Lehrer zu sorgen, sie in eine sichtbare Verbindung zu bringen, sie gemeinschaftlich zu einer geehrten Corporation zu heben, d.h. hier, in diesem einzigen Falle, eine Conföderation zu veranlassen, wo nur Scheu und Ungelenkigkeit, wie tief auch das Bedürfniß gefühlt wird, verhindert, daß sie von selbst entsteht.

Kein Friede unter den beiden andern Ständen, die sich dermalen um den Besitz der Welt streiten, ist möglich ohne die Bildung eines wahren geistlichen Standes, einer vorläufigen persönlichen Conföderation derer, die auf die geistige Bildung der Welt und der Jugend zumal Einfluß haben, bis die Kirche in ihre Rechte tritt, welches letzte und höchste denn freilich allein den höheren Fügungen überlassen bleiben muß.

Aber denken Sie an mich: die positiven Schritte zur Besserung lassen sich abseiten der Congreßmächte nicht ganz vermeiden; die negativen, selbst die kräftigsten darunter, z.B. Epurationen der Lehrstühle, reichen allein <287:> nicht hin. Wie große Effekte könnten Sie, könnten Fürst Metternich und Graf Bernstorff gemeinschaftlich wirken! denn die öffentliche Intervention Rußlands in dieser Sache hat unter den gegenwärtigen Umständen manches Bedenkliche.

Indem ich Vorstehendes fortsetzen will, erhalte ich Ihren Brief vom 5. Mai (wohlbemerkt schon heute 10. Mai direkt durch Post), und zugleich die nicht geringfügige Notiz aus Halle, daß der König von Preußen die Rektoren seiner Landesuniversitäten mit dem Range der geheimen Obertribunalräthe kurfähig erklärt hat.

Wie freue ich mich über das von Ihnen in Ihrem Briefe bekannte Normalprincip: Höchste Consequenz, Bestimmtheit, auch Reinheit und Correktheit des Geistes, in dem man handelt, andererseits aber die höchste Mäßigung, Behutsamkeit und äußere Unscheinbarkeit der praktischen Maßregeln.

So viel für heute, da die Post abgeht; den Ausdruck ununterbrochener Bewunderung Ihrer Bewirthschaftung des de Pradt für’s nächstemal.

Herzlichst der Ihrige

Adam Müller.