Briefwechsel 1819. 171. Wien, den 19. April 1819. Ihr Brief vom 3. d., mein theuerster Freund, war mir eine höchst willkommene Erscheinung. Ich hatte Ihnen zu Ende des Februars einen kurzen Zettel geschrieben, um Ihnen zu melden, daß Sie, nach der Disposition des Fürsten, in dessen Abwesenheit alle für ihn bestimmten Briefe und Mittheilungen sous cachet volant durch mich gehen lassen sollten. Wo dieser Zettel geblieben ist, weiß ich nicht, vermuthe aber, daß Sie ihn nie erhalten haben. Als Ihre Berichte über die Mordthat in Mannheim eingingen und durch einen Zufall nach Italien expedirt wurden, ohne daß ich sie gesehen hatte, war ich in Verzweiflung und wollte eben an Sie schreiben, um über das Schicksal meines obgedachten Zettels einige Aufklärung zu erhalten, als die Ankunft Ihres Briefes mich alles vergessen ließ. Sie haben vollkommen Recht: Alles ist verloren, wenn nicht Religion pas seulement comme foi, mais comme loi wieder hergestellt wird. Ich gehe noch weiter: Nie wird Religion wieder als Glaube hergestellt werden, wenn sie nicht zuvor als Gesetz wieder hergestellt wird. Denn nur als Gesetz kann sie einen Glauben des Gehorsams selbst in denjenigen begründen, die für den direkten Glauben unempfänglich waren oder geworden sind. Vergessen Sie jetzt auf einen Augenblick alles, was meine rebellische Vernunft in früheren Verhandlungen, in Bezug auf mich, Ihnen oft entgegengesetzt hat. Ich stelle mich auf einen höheren Standpunkt, von <275:> welchem ich das Ganze (und mich im Ganzen) betrachte. Es frägt sich hier nicht, inwiefern meine Vernunft gebändigt werden kann; aber ich weiß, daß keine moralische und folglich auch keine politische Weltordnung bestehen kann, wenn sich nicht Mittel finden, die Vernunft eines Jeden zu bändigen, und wenn der unselige Anspruch, vermöge dessen Jeder seine eigene Vernunft als gesetzgebend ansehen will, nicht aus der menschlichen Gesellschaft wieder zu verbannen ist. Ohne Regel und Gesetz kann keine Gesellschaft wahrer Menschen gedacht werden. Diese Regel und dieses Gesetz können aber keine Haltung haben, wenn sie von bloßer Willkür, sollte es auch die aufgeklärteste seyn, ausgehen. Denn Willkür gegen Willkür, ist am Ende Jeder gleich befugt, die seinige für die beste zu halten. Es muß ein höheres Gesetz geben. Dieß kann nur in der Religion zu finden seyn, und zwar nur in einer Religion, die den ganzen Menschen in Anspruch nimmt, welches, außer der christlichen, noch keine andere auch nur versucht hat. Selbst hier aber kann das höhere Gesetz keine feste Wurzel schlagen, wenn es nicht von einer fortdauernden gesetzgebenden Macht regelmäßig verwaltet wird. Es muß folglich eine Kirche bestehen; und in dieser Kirche muß Einheit und Unwandelbarkeit in allem Wesentlichen das erste Princip seyn. Sobald man einmal zugibt, daß die Vernunft des Einzelnen in Sachen der Religion, nicht bloß unter der Hand rebelliren (welches sich nicht immer vermeiden läßt), sondern für ihn selbst und gar für Andere gesetzgebend werden kann, muß das nämliche auch für alle Staatsverhältnisse gelten; und von dem Augenblicke an fällt die Gesellschaft auseinander und alles sinkt in den wilden Naturzustand zurück. Kirche und Staat dürfen immer nur sich selbst reformiren; das heißt, jede wahre Reform muß von den in beiden constituirten Autoritäten ausgehen. Sobald der Einzelne oder das sogenannte Volk in dieses Geschäft eingreifen darf, ist keine Rettung mehr. Der Protestantismus ist die erste, wahre und einzige Quelle aller ungeheuren Uebel, unter welchen wir heute erliegen. Wäre er bloß raisonnirend geblieben, so hätte man ihn, da das Element desselben einmal tief in der menschlichen Natur steckt, dulden müssen und können. Indem sich aber die Regierungen bequemten, den Protestantismus als eine erlaubte religiöse Form, als eine Gestalt des Christenthums, als ein Menschenrecht anzuerkennen, mit ihm zu capituliren, ihm seine Stelle im Staat neben der eigentlichen wahren Kirche, <276:> wohl gar auf den Trümmern derselben anzuweisen, war sofort die religiöse, moralische und politische Weltordnung aufgelöst. Was wir erlebt haben, war nur eine nothwendige Folge, und die natürliche Entwicklung jenes ersten unermeßlichen Frevels. Die ganze französische Revolution und die noch schlimmere, die Deutschland bevorsteht, sind aus der nämlichen Quelle geflossen. Wenn Einzelne im Volk, Fraktionen des Volks, die Majorität des Volks u.s.f. die Kirche verstoßen durften, warum sollten sie den Staat nicht umstürzen, der, sobald einmal Vernunftautoritäten herrschen können, nicht um ein Haar heiliger ist als die Kirche? Wenn Luther reformiren, d.h. seine Kirche gegen die allgemeine aufstellen durfte, warum sollten Beer und Hornthal nicht gleiches Recht gegen den König von Bayern und seine Minister haben? Wer A sagt, muß B sagen. Wenn es keine höhere Autorität mehr gibt als die Vernunft jedes Einzelnen, so muß die Revolution der natürliche Zustand der Gesellschaft werden, und Intervallen von Ruhe und Ordnung können nur Ausnahmen seyn. So weit bin ich mit meiner Theorie vollkommen im Reinen. Aber leider ist das bloß der historische Theil derselben. Die gegenwärtigen Uebel und ihre Ursachen und ihre ferneren Wirkungen sind mir vollkommen klar. Der religiöse Protestantismus geht freilich an seiner eigenen Verkehrtheit unter, aber (wie der Abbé de la Mennais vortrefflich sagt) il appelle en expirant de nouvelles erreurs pour la venger. Der politische, ob er gleich durchaus nichts bauen, immer nur zerstören kann, ist im lebendigsten Fortschritt begriffen; die rechtmäßigen Gewalten athmen kaum mehr. Das Blut gerinnt einem in den Adern, wenn man in die Zukunft blickt und denkt, daß das höchste Ideal des Staates in den Augen aller unserer Aufgeklärten die Republik der nordamerikanischen Heiden, und Bailleul ihr politisches Evangelium ist. Wie soll es aber besser werden? Ich habe gewiß großen Respekt vor Ihrem Genie, mein Freund; aber wenn ich Ihre positiven Vorschläge betrachte, so sinkt mir der letzte Muth. Mich dünkt, Sie wissen selbst so wenig Rath, daß Sie, wie ein verzweifelter Arzt, exotische Goldtinkturen verschreiben, die Niemand habhaft werden kann. In einem Zeitalter, wo man fast nur noch par procédé Gott statuirt, verlangen Sie Glauben an die tiefsten Geheimnisse der Offenbarung. Unter Menschen, denen jeder Ueberrest privilegirter Klassen ein Gräuel ist, wollen <277:> Sie einen wohlgeordneten Feudalismus einführen. Ihre Arzneien verschmähe ich nicht; wenn Sie die Alleinherrschaft der Kirche wieder herstellen können, will ich gern meine Vernunft so lange kasteien, bis sie auch das Unbegreiflichste annimmt; und erreiche ich es nicht ganz, so wird Gott mir vergeben. Jeder Feudalismus, selbst ein sehr mittelmäßig geordneter, soll mir willkommen seyn, wenn er uns von der Herrschaft des Pöbels, der falschen Gelehrten, der Studenten, und besonders der Zeitungsschreiber befreit. Aber wie sollen denn diese wahren Reformen zu Stande kommen? Wer soll sie beginnen und wer ausführen? Können Sie, um consequent zu verfahren, leugnen, daß man weit, sehr weit zurückgehen müßte, um auch nur einige der Wurzeln unserer jetzigen Uebel zu treffen? Und wenn es denn wirklich (was ich jedoch nicht glaube) mit weisen und festen Beschlüssen pro futuro gethan wäre, können Sie auch nur diese, so wie die Sachen heute stehen, so wie die Regierungen, deren Stellung und Gesinnung ja auch ein Produkt aller früheren Verkehrtheit ist, einmal beschaffen sind, mit irgend einer vernünftigen Wahrscheinlichkeit erwarten? Hierüber möchte ich etwas, oder vielmehr sehr viel von Ihnen hören. Es versteht sich von selbst, daß ich, trotz aller dieser Zweifel, die Pflicht jedes Einzelnen, so zu handeln, als ob der Erfolg gewiß wäre, unbedingt anerkenne. Mein System habe ich hier deutlich ausgesprochen; das Ihrige war mir längst bekannt. Ich hoffe, unsere Wege treffen nun so ziemlich in Einem Punkte zusammen, wenn sie gleich von verschiedenen Punkten auslaufen. N.S. Sie wissen, daß es mein Lieblingsgedanke war, diesen Sommer eine Spazierfahrt von einigen Monaten in die Schweiz zu unternehmen. Noch habe ich keinen bestimmten und positiven Grund, das Projekt als aufgegeben zu betrachten. Mir ahndet aber, daß es nicht zur Vollziehung kommen wird, und daß ich, statt dessen, genöthigt seyn werde, mit dem Fürsten im Monat Juli oder August nach dem vielgeliebten Carlsbad zu wandern. Gentz. <278:> |
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