Briefwechsel

168.

Leipzig, den 24. August 1818.

Ihre Finalerklärungen über den Glauben in dem Briefe vom 20. sind keineswegs so zurückschreckend und ketzerisch, als wofür sie mir nach Ihrer Absicht gelten sollen. Wer wagt zu behaupten, daß Sie oder ich oder irgend eine Kreatur aus eigenen Kräften glauben könnten? So lange <264:> die Kirche steht, lehrt sie dasselbe, nur daß sie Gnade Gottes nennt, was Sie Talent oder Fähigkeit zum Glauben nennen, und daß ferner Sie fatalistisch behaupten, Gott vertheile dieses Talent willkürlich, z.B. an Pilat und nicht an Sie, während die Kirche behauptet, daß innere Bekehrung des Herzens, Reue, Absagung der Sünde, Dämpfung des Eigenwillens, Uebungen der Demuth und Resignation jener göttlichen Gnade entgegenführen. Ohne Gottes dergestalt erlangte direkte Einwirkung auf das menschliche Herz wird der eigentliche Glaube nicht erlangt. Was aber der menschliche Verstand auf seiner letzten und höchsten Höhe erreicht – der Gipfel aller Philosophie – ist die Ueberzeugung, daß die Vernunft ein non-ens sey ohne ein sie begleitendes, ihr gegenüberstehendes x, aus einer ganz andern als der irdischen Ordnung der Dinge stammend, einer ganz andern Residenz als der des Wissens und der Erkenntniß, also vielleicht dem Herzen, angewiesen. Da scheint dann, wie Sie so treffend beschreiben, der Verstand zu wachsen, während das Herz erkaltet ist. Er wächst der höchsten aller Erkenntnisse, nämlich der von seiner Nichtigkeit ohne den Glauben, entgegen. Hat er das Herz ganz aufgegeben, dem Glauben ganz abgesagt, so ist er der Sucht nach einem leeren, ewig unbestimmten und unvermeidlichen x, einer unendlichen Plage, einer höllischen Flamme um so gewisser geweiht, als er jenem Gipfel der Erkenntniß näher gekommen ist. Das ist, was ich von jeher Wachsthum in der Erkenntniß des Teufels genannt habe, ein Hauptstück des Gottesdienstes für jeden, der außer der Erkenntniß auch noch nach dem Guten strebt; ein unvermeidliches ewiges Gericht für den, dessen Herz erkaltet ist, und der in dem absoluten Streben nach der Erkenntniß, das heißt in der Sünde, verharret.

Passons! Zu viel schon für eine Reiseunterhaltung. Ich kann mir denken, wie mein Dresdner Brief in der Constellation mit wallachischen Manuscripten und andern Geschäften des Tages gewirkt hat.

Ihr Sträuben gegen das Wiedersehen mit Ihren Schwestern nicht allein, sondern noch viel mehr die Gründe, welche Sie anführen, finde ich unmenschlich. Ich finde, nachdem ich sie in Dresden zu mehreren malen gesprochen, nicht nur die achtungswürdigsten Personen, sondern auch viele Annehmlichkeiten des Geistes, bei so großer und inniger Anhänglichkeit zu Ihnen, in diesen gefürchteten Schwestern, daß ich überzeugt bin, Sie würden zwei bis drei Tage nicht nur erträglich, sondern genußreich mit <265:> ihnen zubringen. Aeußerlich sind sie so wenig verändert, daß ich vielmehr für Sie in diesem Rendezvous nur die allzulebhafte Rückversetzung in den ehemaligen Zustand längst hinter sich geworfener Zeiten peinigend finde. Ist aber dieses ein Grund, eine Pflicht der Pietät – die einzige, die Ihnen obliegt – schnöde zu versäumen? Die Erwartung ist so hoch gespannt, von Ihnen selbst und von mir im Auftrag Ihrer genährt, und beide kennen die Welt zu gut, als daß sie nicht fühlen sollten, es gelte eine Trennung für immer, und eine unheilbare Wunde für immer, wenn Sie diese Gegenden verlassen könnten, ohne sie wiederzusehen. Liebster Freund! könnten Sie Ihre beklagenswürdige Scheu vor der Vergangenheit auf die Ihnen nächstgestellten Personen ausdehnen, könnten Sie Ihr Gewissen mit solcher Last beschweren wollen, anstatt mit so leichter Mühe eine Schuld abzutragen, die von dem höheren Gange Ihres Schicksals unzertrennlich war, zu der Sie sich aber dennoch bei dem Edelmuthe Ihres Geistes bekennen müssen? Vergeben Sie meine Zudringlichkeit, die doch nur in wahrer Freundschaft für Sie ihren Grund haben kann. Sind Ihnen Teplitz oder Dresden zuwider, wählen Sie Leipzig zum Rendezvous und kommen Sie über Eger auf guten Wegen und der kürzesten Straße hierher; vielleicht bin ich die passende Mittelsperson. Hier können Sie die wenigen Tage völlig ungestört von unbehaglichen Nebeneindrücken zubringen. Leipzig ist Ihnen nicht viel entfernter als Teplitz, und von hier gehen Sie auf meistentheils guten Wegen direkt nach Frankfurt, ersparen also mehr als die Rückreise von Teplitz nach Eger. Ich beschwöre Sie meine gutgemeinten Propositionen zu beachten.

Adam Müller.