Briefwechsel

167.

Carlsbad, den 20. August 1818.

Die ganze vorige Woche war ich in Franzensbrunn, von da ich Ihnen in großer Eile und Agitation ein paar flüchtige Worte schrieb, denen heute auch nichts sehr Gründliches folgen wird.

Sonntag kam der Fürst herüber und Montag ging er wieder zurück. Die letzten zwei Tage (gestern und vorgestern) waren die stillsten und freisten, die ich seit zwei Monaten erlebt habe. Noch stehen mir zwei ähnliche bevor, von denen ich aber jede Stunde benutzen muß, um mich mit allen nothwendigen Gegenständen und Correspondenzen ins Reine zu setzen, bevor ich die neue Reise antrete. Mit nächstem Sonntag fängt die Unruhe wieder an. Ich gehe dann nach Franzensbrunn, von wo der Fürst Dienstag den 25. (über Marienbad und Königswart) nach Frankfurt reiset. Denselben Tag begebe ich mich wieder nach Carlsbad, um entweder bis zum 29. still zu sitzen oder in den Zwischentagen das Rendezvous mit meinen Schwestern abzuhalten. Sie haben mir dieses so dringend ans Herz gelegt, daß ich nicht weiß, wie ich mich davon los machen soll, obgleich – ehrlich mit Ihnen gesprochen – es mich in hohem Grade quält. Ich fürchte mich, meine Schwestern zu sehen. Die Veränderung, die in 16 Jahren mit ihnen vorgegangen seyn muß, wird mir ein unheimlicher Maßstab der abgelaufenen Zeit werden, dessen Nähe ich mir gar zu gern ersparte.

Ich las eben wieder Ihren Brief aus Dresden; dieser Brief und unsere hiesigen Gespräche haben mich von Neuem recht innig überzeugt, daß Glauben oder Nichtglauben eine durchaus von individuellen Bestimmungen abhängige Sache ist, daß es eine eigene besondere Fähigkeit im <263:> Menschen, wie für die Musik, wie für die Wissenschaft, so für das lebendige Auffassen des Gegensatzes der Vernunft (Glauben an eine Offenbarung) gibt, und daß diese Fähigkeit höchst ungleich unter die Einzelnen vertheilt ist, daß mithin „die Kette, über welche die Scheere der Parze nichts vermag,“ nicht ergreifen kann, wer da will, sondern nur wer es vermag. Ich weiß und fühle sehr gut, was über die Schönheit der Regionen, in welche diese Kette läuft, und über die Nüchternheit der diesseitigen zu sagen ist, aber ich fühle auch, daß mein Schicksal mich nun einmal in die öde Wirklichkeit gebannt hat, und daß ich ihm in einem Alter, wo die Phantasie schweigt und das Herz erkaltet, die Klarheit des Kopfes das einzige, noch im Zunehmen begriffene, Vermögen ist, nicht mehr entrinnen werde.

Eine hübsche Geschichte von Goethe muß ich Ihnen doch noch erzählen. Ungefähr acht Tage nach Ihrer Abreise saß ich beim Essen neben ihm. Auf einmal beginnt er: „Sagen Sie mir doch, was ist denn aus unserem guten Adam Müller geworden, den ich lange nicht mehr gesehen habe?“ Als ich ihm antwortete, Sie wären längst nach Leipzig zurück: „Ei! Ei! das thut mir wirklich sehr leid! Ich hätte doch den Mann gern einmal recht genießen mögen.“ Das Beste ist, daß dieß nicht Heuchelei war, und daß er einzig aus dem Grunde nicht mit Ihnen gesprochen hat, weil acht oder zehn Tage ein viel zu kurzer Zeitraum für ihn ist, um einen so herzhaften Entschluß zu fassen.

Unter die hübschen Brunnenanekdoten gehört, daß die meisten hier anwesenden polnischen Weiber, Goethe mit mir verwechselnd, immer geglaubt haben, er hätte über die Finanzen geschrieben, und daß ein russischer General von hohem Range die Fürstin S. (eine Enthusiastin für Goethe’s Werke) gefragt hat: „Mr. Goethe a-t-il écrit en Français ou en Allemand?“

Gentz.