Briefwechsel

165.

Dresden, 6. August 1818.

Gleich nach meiner Ankunft habe ich mich zu Ihren Frln. Schwestern verfügt und bin von ihnen um Ihretwillen mit der größten Freundlichkeit und Güte aufgenommen worden. Sie haben ihren hiesigen Aufenthalt dadurch verdorben, daß sie die Wittwe des Iffland mit sich genommen, und wünschen daher auch ein Rendezvous mit Ihnen nicht hier, sondern wo möglich in Teplitz, wo sie in der Töpferschenke einige wenige Tage zubringen möchten. Ihr Verlangen nach Ihnen zu beschreiben, kann ich kaum Worte finden, und ich halte es für eine Ihrer dringendsten Pflichten, dieser Sehnsucht so werther Personen baldigst zu entsprechen. So viel ich gestern und heute mit ihnen gesprochen, leuchtet überall hervor, daß das Andenken an Sie und das Gefühl, Ihnen näher als andere zu gehören, wesentlich ihr ganzes Leben erfüllt und erhellt. Also, mein Freund, haben Sie in solcher Nähe von Teplitz eigentlich keine Wahl und keine Entschuldigung.

Meine weltlichen Angelegenheiten lege ich wiederholentlich in Ihre Hände und rechne darauf, daß Sie den Fürsten ermuntern und antreiben werden, sein Wort zu erfüllen. Ich aber lebe in dem gewöhnlichen Regret, Sie nicht genug gesehen, gesprochen und genossen zu haben. Indeß ist unser letztes Sonntagsgespräch ein Quell von Beruhigung und Hoffnung für mich. Es bleibt dabei, daß Wissen ohne Glauben, ein herz- und sittenloses Wissen unmöglich sey, und daß alle Herrschaft des Verstandes nur stattfinden könne, inwiefern sich das dem Verstande angewachsene Herz tiefer und tiefer demüthiget. Ueber diesen Punkt einig stehen wir schon auf gemeinschaftlicher Basis der Moral. Wir erkennen neben dem Wirken und Schaffen der Vernunft unaufhörlich ein ihr Gegebenes, Eröffnetes und Offenbartes an, also ein leidendes, still empfangendes Verhalten gegen dasselbe, so daß aus Handeln und Leiden eine wahre Befruchtung hervorgehen könne. Diese einzig mögliche und wahrhafte Ansicht der Geburt aller Ideen und Gedanken haben Sie, mein Freund, mehr als anerkannt, indem Sie alles direkte Wissen von der Außenwelt und der sog. Natur mit noch besseren Argumenten als ich verworfen und vernichtigt haben.

Nun also, da Sie das Wunder eingestehen, daß die scharfe und halbe Vernunft nicht leben könne, ohne ein dunkles Geheimniß, welches <260:> aus jeder Kreatur, aus aller Geschichte und Erfahrung und aus den gesammten positiven und, ohne unser Zuthun, meistentheils lange vor uns gegebenen Dingen, zu uns redet, uns lenkt, bestimmt und berichtigt – wie natürlich ist der Schritt zu Gott; wie angemessen einer freien und stolzen Seele dieses in allen uns begleitenden politischen, natürlichen und religiösen Offenbarungen webende, sich überall selbst gleiche Geheimniß für Gott, für einen persönlichen Gott anzuerkennen, der bald dunkel, bald deutlich, selten im Sturm der Völkerbewegungen, oft im Säuseln stiller Empfindungen des Herzens zu uns redet; der auf mancherlei Weise durch den Mund aller Propheten in heiligen Ideen und Figuren zu uns gesprochen, zuletzt aber seine wesentlichste Eigenschaft, eben seine Persönlichkeit uns eröffnet durch sich selbst, durch sein ewiges, mit absoluter Verständlichkeit an das Ohr unseres Herzens gelegtes Wort, durch seine Menschwerdung!

Vergessen Sie nicht, daß Sie am Sonntag, am 2. August, mit wahrer philosophischer Beredtsamkeit und bewundernswürdiger Geschäftigkeit einer großen Seele, vor meinen Augen das ganze Kunststück der isolirten menschlichen Vernunft, nämlich die sg. Natur zerzweifelt und zerstört haben. Vermag, wie Sie glänzend erwiesen, die Vernunft nichts über die Natur, kein Ergreifen, kein Reconstruiren, also auch kein absolutes Beherrschen derselben, so verbleibt ihr nichts als der Umgang mit Gott, das Gespräch mit ihm, also das demüthige Vernehmen seiner Offenbarungen, der Gehorsam gegen sein Wort, welches in alle Tiefen der Weisheit und der Erkenntniß leitet und bestehen wird, wenn Himmel und Erde wie ein Gewand veraltet seyn werden.

Liebster Gentz! Erkennen Sie meine wahre Anhänglichkeit und Treue in folgendem: Es gibt zwei Gedankenreihen in der Seele des Menschen; eine, die in den bunten Knäuel der Welthändel verwickelt, sich fortspinnt, ein irdischer Faden, der unwiderruflich mit dem Tode zerreißt; eine andere Gedankenreihe, eine höhere, eine Gedankenkette, die uns mit der Ewigkeit verbindet. Ferner: es git zweierlei Gesichter der Dinge, die uns hier unter den Schatten der Erde reizen, treiben, bewegen: ein vergängliches, was mit den andern Bildungen der Natur in Asche zurückfällt; ein ewiges, welches sich gerade, weil das andere verdirbt, um so glänzender verklärt.

Ergreifen Sie die Kette, mein Freund, über die die Scheere der <261:> Parze nichts vermag; wenden Sie sich zu der unvergänglichen Figur der Dinge, zu jener unzerstörbaren Gestalt des Lebens, die aus dem Gehorsam gegen die göttlichen Offenbarungen herstammt und genau in dem Maße sich erhellt und erstarkt, als die falschen Gestaltungen dieser Erde im fortschreitenden Alter gespensterartig zerfließen und dahin fahren.

Ich bin unaufhörlich mit Ihnen beschäftigt; möchten Sie auch meiner oft und freundlich gedenken.

A. Müller.