Briefwechsel

1818.

158.

Wien, den 19. April 1818.

Ich überschreite nicht die Wahrheit, liebster Freund, wenn ich Ihnen versichere, daß ich im Laufe des vergangenen Winters wenigstens zwölf Briefe an Sie angefangen, und einige sogar bis auf mehrere Bogen fortgeführt habe. Aber bald warf mich der Drang anderer Geschäfte (denn nie habe ich mehr gearbeitet, als in diesem Winter) heraus, und ließ mich nachher die Stimmung, in der ich begonnen hatte, nicht wieder finden; bald schien mir das wirklich schon Geschriebene so unzureichend, so ungenügend, daß ich es fallen ließ.

Hieraus werden Sie denn doch den Schluß ziehen, daß ich keinen Augenblick aufhörte, ein lebhaftes Interesse an Ihnen zu nehmen.

Jetzt ist meine Unruhe gedämpft. Ich weiß mit ziemlicher Gewißheit, daß ich Sie nach einigen Monaten sehen werde. Es wäre also ganz überflüssig, in schriftlichen Verhandlungen zu versuchen, was, insofern es überhaupt erreichbar ist, nur im Gespräch noch gedeihen kann.

Ich schreibe Ihnen eigentlich heute auf Veranlassung des Fürsten, auf welchen Ihr gestern angekommenes Sendschreiben an Görres einen großen Eindruck gemacht hat.

Dieses Schreiben ist, zuvörderst aus dem Standpunkt Ihres Zweckes betrachtet, meisterhaft. Sie haben ihn mit unübertrefflicher Geschicklichkeit so gestellt, daß er weder rückwärts noch vorwärts sich bewegen kann; und ich stelle mir die Verlegenheit, in welche diese Adresse ihn setzen wird, als gränzenlos vor.

Um den Styl nach Würden zu loben, müßte ich so schreiben können, <248:> wie Sie. Ich hatte die Schrift gestern Abend zweimal gelesen; und als diesen Morgen (in der Frühstücksstunde) Metternich sie mir von Anfang bis zu Ende vorlas, war mir beständig so zu Muthe, wie einst Voltairen, als Le Kain ihm eine Scene aus der Athalie declamirte, und jener, die unmittelbare Absicht des Vortrages ganz vergessend, einmal über das andere ausrief: Ah, Monsieur! quel homme que Racine! et voilà comme toute la pièce est écrite! – Sie sind der einzige Mensch in Deutschland, von dem ich sage, daß er göttlich schreibt, so oft er es will; und von allen Frechheiten unserer Tage ist keine, die mich mehr befremdet, und mehr aufbringt, als die, sich mit Ihnen messen zu wollen.

Was Ihre Ideen betrifft, so nehme ich meine Zuflucht zu einem Bilde, um Ihnen auszudrücken, wie Sie auf mich wirken. Sie erscheinen mir, wie Einer, der auf einem sehr hohen, runden, glatten, von allen Seiten isolirten und unzugänglichen Thurm säße, und dort ein prachtvolles Gastmahl aufstellte, wozu er von Zeit zu Zeit die Untenstehenden einlüde. Die große Mehrheit der letzteren antwortet ihm: Eure Speisen, obgleich wohlriechend und von schönem Ansehen, sind nichts als Dampf und Dunst, wir mögen sie nicht. Einige von edlerer Art (wie der Fürst, wie ich u.s.f.) denken oder sagen: Wir verlangen nicht besser, aber wie kommen wir auf Deinen Thurm? Wo ist die Leiter, die uns hinaufführt, wenn Du uns nicht durch ein Wunder hinaufheben kannst?

Ihr System ist ein geschlossenes Ganzes. Es irgendwo angreifen wollen, wäre vergeblich. Man kann nur ganz drinnen oder ganz draußen seyn. Können Sie uns beweisen, begreiflich machen, daß alle wahre Wissenschaft, Einsicht in die Natur, Gesetzgebung, gesellschaftliche Verfassung, selbst Geschichte (wie Sie irgendwo behaupteten) das Werk einer göttlichen Offenbarung sey, und nur von dieser ausgehen könne – so haben Sie (mit mir wenigstens) alles gewonnen. So lange Ihnen dieß aber nicht gelingt, stehen wir von fern, bewundern Sie, lieben Sie auch, – aber sind durch eine unübersteigliche Kluft von Ihnen geschieden.

Das ist der Text meiner künftigen Gespräche mit Ihnen. Vorderhand, so sehr Sie auch an mir verzweifeln mögen, verlange ich nur, daß Sie mir nicht das schmählichste Unrecht anthun.

Gentz. <249:>