Briefwechsel 155. Leipzig, den 17. April 1817. Das Urtheilende in Ihnen, verehrter Freund, und welches Sie Vernunft nennen, ist es denn ein so einfaches Wesen, als Sie anzunehmen scheinen? und hätten Sie dessen Entzweiung nie gefühlt? Sie sagen: von allem, was durch die Vernunft erkennbar ist, muß auch eine Appellation an die Vernunft gelten. Wer aber behauptet denn, daß die <241:> Vernunft an und für sich irgend etwas erkenne? Nehmen Sie ihr den Glauben, ich will noch nicht sagen an Gott, aber an eine gewisse Gerechtigkeit des Weltganges, an eine Ordnung und einen Zusammenhang der Dinge; trennen Sie von ihr das Gewissen, und alle die vielfältigen Anregungen und Heimlichkeiten, für die ihr das Ohr zu Theil wurde, so bleibt Ihnen nichts als die thierische Vernunft, der Sie nimmermehr die Fähigkeit des Erkennens zuschreiben werden wollen. Erkennen heißt: ein Einzelnes wahrnehmen und zugleich an ein gewisses Ganze (eine moralische oder physische Weltordnung, in die es nothwendig gehört oder willkürlich versetzt wird) glauben. Trennen Sie dieses ächte oder falsche Glauben von dem Erkennen, so verbleibt Ihnen nichts als das thierische Wahrnehmen, der Sinnesklang oder Nachklang, der nur körperliche Spuren hinterlassen, aber nie ein Urtheil erzeugen kann. Indeß geben Sie mir wohl zu, daß ein gewisses unaufhörliches Glauben nicht von dem Wahrnehmen der Vernunft, ein Gehorchen, Hören und Leiden derselben nicht von ihrem Handeln, Sprechen und Urtheilen zu trennen ist. Die Vernunft kann es nicht läugnen, daß sie empfängt, daß ihr ununterbrochen gegeben wird, daß sie einen Herrn hat, vielleicht bald diesen, bald jenen, daß sie getragen wird, bald von einem Winde, bald von einem Felsen genug, daß sie abhängig ist, daß sie nicht oberster Richter der Dinge ist. Diesen Glauben an einen höhern Herrn, oder an viele, an ein höheres Gericht, oder an viele (ohne welchen Glauben die Vernunft ihre eigene Gebrechlichkeit und Beschränktheit nicht ertragen würde) bitte ich also als einen nothwendigen Beisitzer der Vernunft bei jedem ihrer Urtheile anzuerkennen. Da nun alo der Glaube von der Vernunft nie und nirgends zu trennen ist, so wird es nur darauf ankommen, den wahren von dem falschen Glauben zu unterscheiden. Den falschen Glauben lehren uns die Welt und die Zeit am besten erkennen. Es ist jener complicirte Zustand der Vernunft, da sie 1) einerseits bewußtlos glauben, leiden und gehorchen muß, dieses ihr Glauben, Leiden und Gehorchen aber aus Hochmuth nicht anerkennen will und sich daher andererseits aus eigenem Holze einen Glauben schnitzt und als eigenes Gemächte (Artefakt) sich unterwirft, das sie dann Natur oder Staat, oder nach Herzenslust auf tausenderlei Weise nennt. Die so verkehrte und verhunzte Vernunft ist es, vor deren Richterstuhl die Reformation auch sogar den wahren Glauben gezogen hat. Oder 2) da sich die Vernunft dem Glauben <242:> blind und unthätig unterwirft, da sie von der Gnade des Höheren nur leiden, nur hören, nur empfangen will. Wo gibt es noch eine Seele wie die Ihrige, liebster Gentz, die so treu und so sensibel diese beiden Gestalten des falschen Glaubens abhorrirt hätte? Ich wäre ein Ungeheuer der Undankbarkeit, wenn ich vergessen könnte, wie oft und wie sicher Sie mir dabei vorempfunden haben. Wie leicht also wäre es, Sie für den wahren Glauben zu gewinnen! wie leicht zu der Anerkennung zu gelangen, daß der Glaube an Gott, also Gott selbst jener permanente Beisitzer der Vernunft bei ihren Urtheilen sein müsse, kurz, das, was wir Seele nennen und welches eigentlich das nach Verhältniß seiner Freiheit dummer oder kluger Urtheilende in uns ist, nichts anderes sey als gemeinere oder höhere Liebe; ein liebender Verkehr der Vernunft mit Gott, ein gebundener und bewölkter oder ein reiner und freier! Es gibt eine Appellation von den Weltgesetzen (z.B. von der politischen Legitimität) aber nicht an die isolirte brouillirte Vernunft, sondern an diese glaubende und liebende Vernunft. Wäre nun die Religion des Evangeliums nichts anderes als der für diesen liebenden Verkehr der menschlichen Vernunft, durch ein Entgegenkommen des unvermeidlichen Gottes, eingerichtete Glaube, so bedürfte es für ein Gemüth wie das Ihrige, welches schon so lange ein gründliches Mißtrauen gegen den falschen Glauben nährt und die einzige erforderliche Tugend der Demuth hinzu bringt, wohl keines weiteren Wunders; es bedürfte nur der gehorsamen Anerkennung jenes allgegenwärtigen Wunders, welches die Vernunft kräftigt und frei macht. Könnte eine Seele wie die Ihrige in dem immer unvermeidlichen Zwangsverhältnisse mit ihrem Gott, ihrem Freund und Beisitzer bis an ihr Ende verharren? Der Aufgabe, mit Ihnen über diese großen Gegenstände zu verhandeln, schriftlich zu verhandeln, werde ich immer erliegen. Vergeben Sie also meinem Drange, der mich selbst unter den Störungen meiner Meßgeschäfte nicht schweigen läßt. Leben Sie wohl! Adam Müller. <243:> |
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