Briefwechsel

154.

Wien, den 6. April 1817.

Sie beschuldigen mich in Ihrem letzten Briefe, mein theuerster Freund, daß ich mich nicht einlassen wollte über Gegenstände, die <238:> Ihnen wichtiger als alles sind. Mich dünkt, diese Beschuldigung kann ich ohne Weiteres auf Sie zurückwälzen. Ich glaube nicht, daß es möglich ist, sich bestimmter einzulassen, als ich es in meinem letzten Schreiben gethan hatte. Ich habe Ihnen unumwunden erklärt, was eigentlich die Scheidewand ist, die uns trennt. Ich habe die Hindernisse, die mich abhalten, so zu sehen und so zu denken wie Sie, klar und ehrlich ausgesprochen, und die sehr ernsthafte Frage hinzugefügt: Wie lassen sich diese Hindernisse überwinden, wenn es dem Himmel nicht beliebt, ein Wunder zu thun? Hätten Sie diese Frage beantworten können und wollen, so war ja die Discussion so vollständig als möglich eröffnet. Ich klage nicht, daß Sie es nicht thaten; Sie konnten mehr als Einen guten Grund dazu haben. Daß Sie mir aber vorwerfen, mich nicht einlassen zu wollen, war diesmal wohl im höchsten Grade ungegründet.

Das achte Heft der Staatsanzeigen gibt mir von Neuem Veranlassung genug,den Punkt herauszuheben, um welchen sich alle Verschiedenheit der Ansichten zwischen uns, und überhaupt alle große Streitfragen jetziger und künftiger Zeit drehen. Sie drücken ihn z.B. deutlich und bestimmt genug aus, wenn Sie sagen: „Es handelt sich um die Niederlage des aller göttlichen und menschlichen Ordnung widerstrebenden Grundsatzes, wonach eine Appellation von den Weltgesetzen an die Vernunft eines Jeden gestattet ist.“ – Erlauben Sie mir einige einfache Bemerkungen und Fragen über diesen Satz.

Von allem, was durch die Vernunft erkennbar ist, muß auch eine Appellation an die Vernunft, und zwar an die Vernunft eines Jeden – denn wessen Vernunft hätte das ausschießende <sic!> Recht, eine gesetzgebende zu seyn? – gelten. Findet diese vor den Weltgesetzen nicht Recht, so müssen die Weltgesetze jenseits der Vernunft, über der Vernunft liegen. Ich behaupte keineswegs, daß dieß nicht seyn könnte, und dringe nicht einmal auf eine Definition des Wortes Weltgesetz, weil eine Definition schon die Vernunft involvirt, um deren Beseitigung es sich hier handelt. Um aber auch nur zu erkennen, daß es Gesetze gibt, die höher als alle Vernunft sind, muß ich schlechterdings ein Medium haben, wodurch ich dieses erkenne. Ist dieses Medium die Vernunft, so tritt offenbar die Competenz der Vernunft auch über die Natur und bindende Kraft der Weltgesetze wieder ein. Ist das Medium nicht die Vernunft, so muß ich wenigstens wissen, wo und was es ist. Erklären Sie es mir, wie <239:> Sie wollen, – mein erstes Bedürfniß wird immer wieder das der Appellation an meine Vernunft seyn; denn auf welchem andern Wege soll ich mir sonst Rechenschaft geben, ob das Medium, welches Sie mir anzeigen, zuläßig sey oder nicht?

Die Weltgesetze, werden Sie mir sagen, sind Offenbarungen Gottes, denen die Vernunft sich unterwerfen muß. Ich frage daher: Sind Sie Ihnen von Gott unmittelbar geoffenbart worden? Antworten Sie: Ja! so erwiedere ich – ohne es weiter zu bezweifeln, wozu ich durchaus nicht berechtigt bin – desto besser für Sie! Mir wurde das Glück nicht zu Theil, ob ich doch wohl nicht unter die Unwürdigsten gehören mag. Wir stehen folglich vor der Hand in ganz abgesonderten Classen. Antworten Sie: Nein! – so ruht Ihre Ueberzeugung von jenen Offenbarungen nur auf dem Glauben an das, was Andern offenbart wurde. Nun dieser Glaube fehlt mir ebenfalls. Ich habe gewiß lange, treu und redlich darnach gestrebt, mich gerade für diese Erkenntnißquelle von Offenbarungen – da mir unmittelbare nicht vergönnt wurden – empfänglich zu machen. Sie sind selbst mehrere Jahre hindurch Zeuge davon gewesen. Es ist mir nicht gelungen. Der Sinn für den Glauben ist mir nie aufgegangen. Mithin kann Offenbarung, in Ihrer, in der theologischen Bedeutung des Wortes, für mich weder mittelbar noch unmittelbar existiren; und meine Definition von Weltgesetzen – die ich übrigens von Willkür, von Eigendünkel, von Mißbrauch der Privatvernunft, von Mißbrauch der Imagination &c. nichts desto weniger sehr wohl zu unterscheiden weiß – muß nothwendig ganz anders ausfallen, als die Ihrige.

So lange Sie nicht im Stande sind, diese Fundamentaldifferenz zwischen uns zu heben, müssen Sie mir nothwendig verzeihen, daß ich viele Ihrer kraftvollsten Aeußerungen als bloße Machtsprüche betrachte, die ich oft mit Bewunderung, zuweilen mit Unzufriedenheit lese, die aber weder in einem noch in dem andern Fall Gehorsam bei mir erzwingen können, da ich den letzten Grund derselben für Usurpation halte. Uebrigens liebe ich im Ganzen Ihre Machtsprüche, weil ich die Stärke und Consequenz Ihres Geistes liebe. Auch bin ich kein Feind von Autoritäten, halte sie vielmehr für ein gewisses und nothwendiges Temperament des Uebermuths der Privatvernunft, und werde mich, besonders in unsern Zeiten, nicht heftig dagegen auflehnen. An mir selbst aber kann ich ihnen keine Gewalt einräumen. Denn ich weiß, daß in meiner Vernunft kein <240:> Uebermuth herrscht, vielmehr Mißtrauen und Bescheidenheit, gehöriger Respekt vor jeder fremden Superiorität, und ein natürliches Hinneigen zu den Meinungen derer, die ich schätze und liebe.

Die ehrenvolle Erwähnung meines Namens in dem Sendschreiben an Haller hat mich sehr gefreut; und selbst die beleidigende Ironie in Ihrem Brief, womit Sie mich dieser Stelle wegen um Verzeihung bitten (als wenn ich nicht bloß ein Frevler, sondern auch ein Coxcomb geworden wäre!), hat den Effekt derselben nicht gedämpft. Eben so bin ich innig gerührt durch Ihren Wunsch, mich zu sehen. Doch habe ich, für dieß Jahr wenigstens, nicht viel Hoffnung auf eine Zusammenkunft. Nach Karlsbad ginge ich wohl in keinem Falle; das schlechteste Dorf in Sachsen oder Böhmen wäre mir lieber. Aber meine Bestellungen für Gastein sind bereits gemacht. Die Wirkung, die dieses Bad im vorigen Jahr auf mich gehabt hat, war so ersprießlich, so unmittelbar und zugleich so dauernd, daß es eine große Thorheit wäre, es in diesem Jahr nicht von neuem zu versuchen. Hiezu kommt die immer gleiche, ja durch die Leidenschaft für das Pflanzenreich noch gesteigerte Vorliebe zu den hohen Alpen. Wenn ich Sie auf acht Tage nach Salzburg oder Linz zaubern könnte – das wäre mir ein unbeschreiblicher Genuß.

Vermuthlich werden Sie bei Empfang dieses Briefes die Selbstbiographie Napoleons schon gelesen haben; das außerordentlichste Buch dieser Zeit, so groß und so schrecklich zugleich, daß von nun an alles, was über die letzten 20 Jahre noch geschrieben werden kann, nur laue Milch seyn muß. Als historische Composition ist es weit über alles Lob erhaben. Welch ein Buch, und welch ein Mensch! Adieu!

Gentz.