Briefwechsel

152.

Wien, den 15. März 1817.

Vor allen Dingen, mein theuerster Freund, muß ich bemerken, daß Sie mir gewaltiges Unrecht thun, wenn Sie glauben, daß ich Ihre Arbeiten nicht lese. Die Wahrheit ist vielmehr, daß keine Zeile von Ihnen erscheint, die ich nicht mit Begierde ergiffe, und mit der größten Aufmerksamkeit durchdächte. Schon vier oder fünfmal habe ich über einzelne Artikel in den Staatsanzeigen meine Meinung zu Papier bringen wollen, und wirklich viele Bogen niedergeschrieben, wenn auch nachher immer Umstände eingetreten sind, die mich unterbrochen, oder Gründe, die mich bewogen haben, davon abzustehen. Ich lese überhaupt seit Jahr und Tag sehr viel; wenn ich mich aber auch auf noch so wenig beschränkte, so würde ich mir doch nie vergeben, etwas, das von Ihnen kommt, ungelesen zu lassen. Es ist daher eine ganz willkürliche Voraussetzung, daß mir Ihre Wiener Vorlesungen (die ich übrigens noch nicht erhielt) auf irgend eine Weise gleichgültig seyn könnten.

Allerdings weiche ich in vielen wichtigen Punkten von Ihrer Ansicht ab; und ohne gerade mit Ihrer Gesinnung, wie Sie es nennen, über den Fuß gespannt zu seyn, ist sie mir – ich bin zu ehrlich, es nicht zu gestehen – seit einiger Zeit fremder geworden, als sonst. Soll ich mich darüber rechtfertigen? Kann ich dafür, daß meine Empfänglichkeit für gewisse Dinge mit den Jahren, anstatt größer zu werden, geringer wird? Ist der Mensch Herr über die Richtung, die seine Gedanken nehmen? Und wenn Sie etwa behaupten wollten, in einem gewissen Grade solle er es seyn, es sey Pflicht, daran zu arbeiten, daß seine Gedankenreihe vielmehr nach diesem, als nach jenem Punkte hin laufe, so frage ich weiter: Setzen Sie dadurch nicht schon als gegeben voraus, was erst erreicht werden müßte? Und kann der Mensch denn sich selbst eine neue innere Gestalt, eine neue Seele, einen neuen Ideengang schaffen? Was ich an Ihnen als etwas Unbegreifliches und immer als eine Art von Wunder anschaue, kann ich das mir aus eigener Kraft beilegen, wenn ich es auch in der That für das Beste und Höchste hielte?

Es ist wahr, daß es eine Zeit gab, wo ich den Ideen und Gefühlen, denen Sie in mir die Oberhand wünschten, näher war, als heute. Soll ich Ihnen über diese Zeit die volle Wahrheit sagen? Hier ist sie. Ich bin froh, daß ich auf halbem Wege stehen blieb. Es fehlte mir <235:> damals, wie jetzt, an der Grund- und Urbedingung jeder wahren Vereinigung mit Ihrer Lehre, an der Fähigkeit, zu glauben, wogegen meine Vernunft sich auflehnt. Ich bestrebte mich aufrichtig, ernsthaft – Sie sind oft Zeuge davon gewesen – diese Fähigkeit in mir zu entwickeln. Daß es mir nicht gelungen ist, kann ich mir unmöglich zur Schuld anrechnen lassen. Wenn ich aber damals meiner inneren Neigung Gehör gegeben, wenn ich irgend einen Schritt gethan hätte, der mich – sobald jene Fähigkeit abging – auf immer mit mir selbst entzweien mußte, was wäre aus mir geworden? Ueber diese Frage bitte ich Sie nachzudenken. Wenn das, was ich heute bin, Ihnen auch noch so sehr mißfallen mag, wie würde Ihnen denn mein wahrhaftes und ehrliches Gemüth in dem Gewande eines Heuchlers gefallen?

Da ich von der Geschichte meines Geistes in den letzten Jahren ziemlich genaue Rechenschaft geben kann, so werde ich Ihnen einst, wenn ich es mit gänzlicher Freiheit vermag, aufs vollständigste erklären, wie ich mich nach und nach von Ihrem Wege entfernt habe. Mit guten Gewissen kann ich versichern, daß Leichtsinn, Weltliebe, Bequemlichkeit oder falscher Schein keinen, oder doch nur einen höchst geringen Antheil daran gehabt haben. Die Wendung, welche die politischen Verhältnisse seit 1813 nahmen, trug viel dazu bei; hätten Sie mich im Jahre 1815 genauer und unbefangener beobachtet, so wäre es Ihnen nicht entgangen. In jedem Falle wird einem Scharfsinn, wie der Ihrige, der Zusammenhang wohl einleuchten. – Ein anderer, Ihnen vielleicht noch unbekannter Umstand hatte ebenfalls großen Theil daran. Seitdem ich das kleine Etablissement in Weinhaus, das Sie in seiner ersten Rohigkeit kannten, besitze, habe ich die Natur unendlich lieb gewonnen, und seit meiner Zurückkunft von Paris zieht mich nichts so sehr an, als Botanik und alles, was dazu gehört. Diese Gegenstände, wie man sie auch betreiben mag, haben eine weit größere Verwandtschaft mit der Erde als mit dem Himmel. Ferner: alles, was nicht durchaus praktisch ist, ekelt mich heute an; und hieraus entspringt eine Stimmung, in welcher es sehr schwer ist, sich mit dem Ueberirdischen zu beschäftigen. Der Hauptpunkt bleibt indessen immer, daß mir der Glaube fehlt; und diesem Mangel ist schlechterdings nur durch ein Wunder abzuhelfen.

Was den Zustand nach dem Tode betrifft, so weiß ich nur so viel, daß er so, wie Sie und andere höchst würdige Männer sich ihn etwa <236:> denken (ob ich gleich nie begriffen habe, wie Sie sich ihn eigentlich denken), nicht seyn kann. Die übrigen Fragen beunruhigen mich gar nicht. Die Idee einer positiven Gefahr, wenn das oder jenes doch zuletzt wahr wäre, geht aus einem so crassen Anthropomorphismus hervor, daß sie mich unmöglich schrecken kann. Ich fasse sie nicht einmal, und damit ich sie nur fassen könnte, müßte abermals jenes Wunder geschehen, dem ich mich nicht widersetzen will, wenn es etwa geschieht, das ich aber durch kein menschliches Mittel herbeizuführen weiß.

Ihre zärtliche Sorgfalt für mich, mein theurer Freund, Ihren liebevollen Wunsch, mich auf dem Wege zu wissen, den Sie für den einzig heilsamen halten, erkenne und ehre ich im Innersten meines Herzens. Ich verlange auch keineswegs, daß Sie anders seyn sollen, als Sie sind, und es wundert mich, wie Sie das von mir besorgen konnten. Allerdings finde ich, daß Ihre Uebergänge vom Irdischen aufs Geistliche manchmal etwas grell sind; allerdings bedaure ich es oft, daß Sie die Krankheiten unserer Zeit (in deren Schilderung Sie zuweilen auch übertreiben) durch Arzneien heilen wollen, die ohne eine allgemeine Verjüngung und Wiedergeburt des menschlichen Geschlechts, welche Sie zu erwarten nicht berechtiget sind, nie wirken könnten. Ich bedaure auch noch manches Andere, worüber ich mich hier nicht ausdrücken will, zumal da ich heute gar nicht polemisch gestimmt bin. Ich erkenne aber den inneren, tieferen Zusammenhang aller dieser Dinge in Ihrem Gemüth so klar und unbedingt, als ich wünschte, daß Sie erkennen möchten, daß auch ich (dem Sie doch Consequenz nicht ganz absprechen werden) nicht füglich anders seyn könnte, als ich bin.

Uebrigens könnte mir noch immer nichts Erfreulicheres, nichts Glücklicheres begegnen, als mit Ihnen an einem Orte zu leben. Ich weiß zuverläßig, daß viel Gutes für uns beide daraus erwachsen würde; und was den Genuß betrifft, so täusche ich mich wenigstens über den, der mir zu Theil werden wird, sicher nicht.

Für die vortrefflichen Blätter über den Cirrus und Cumulus danke ich Ihnen verbindlichst. Fahren Sie doch fort, über diesen Gegenstand zu schreiben. Gerade indem ich diesen Brief schrieb (zwischen 9 und 10 Uhr Abends), hatten wir, nach zehntägigem rauhen Aprilwetter – ein Gewitter!!

Gentz. <237:>