Briefwechsel

107.

Berlin, den 10. Juli 1810.

Damit Sie sehen, daß meine Gleichgültigkeit gegen den unmittelbaren Erfolg meines Werks nicht etwa bloß hinterher anräsonnirt oder die Frucht einer gewissen blinden und rohen, über die Gegenwart resignirten Tapferkeit der Seele ist, so will ich unmittelbar Ihr angenehmes, aber hauptsächlich über diesen Gegenstand sich verbreitendes Schreiben beantworten. Daß meine Schriften, die Sie formlos nennen, schon durch die Vorlesungsform, durch den momentanen Ursprung und durch die augenscheinliche Neutralität gegen sowohl Theorie als Praxis ein Streben in die intimste Gegenwarth verrathen, daß mir also der unmittelbare Erfolg nicht nur gleichgültig, sondern einzig wichtig scheinen mußte, solche Voraussetzung finde ich dunkel, aber vernehmlich in Ihrem Briefe und erwarte ich von jedem aufmerksamen Leser. Erlauben Sie mir aber den eigentlichen Erfolg eines solchen Werks wo anders zu suchen, als in den kritischen Blättern; erlauben Sie mir das Wort eines der ersten Aerzte, des hiesigen Staatmanns Langermann, der mich nie gesehen, oder irgend ein Interesse an meiner Person hat, und über meine Elemente gesagt hat: daß er aus keinem medicinischen Buche je so viel über die Medicin gelernt habe, als aus diesem politischen – gerade so hoch anzuschlagen, als alle Recensionen, die erschienen sind und erscheinen werden. Können Sie glauben, daß schon vor Erscheinung dieser Kritiken ich irgend einem Menschen unter den Zeitgenossen – Sie, und wenn er das Buch so verstehen könnte, wie ich seine Werke verstehe, allenfalls den Marquis de Bonald ausgenommen – die Fähigkeiten zutraute, dieses Werk anzuzeigen? Es gibt Fürsten, es gibt Oekonomen, auch gibt es gläubige Seelen; aber Sie, mein Freund, fühlen zu gut, was aus einer solchen Dismembration <161:> meines Werks nach den drei Hauptabschnitten, denen einzelne Recensenten gewachsen seyn möchten, für eine Kritik herauskommen würde. Was haben also alle diese Kritiken gerade aus den entgegengesetzten Standpunkten der Ansichten, diese Ausfälle der „heterogensten Parteien“ über mich anders vermögen können, als mich darin befestigen, daß ich im Mittelpunkte stehe, und daß Gott mich ausersehen hat, sein ewiges Gesetz zu vindiciren, seine Wissenschaft zu erbauen für die kommenden Zeiten, daß er mir ein Schwert gegeben hat gegen alle Künste, Philosophien und zweideutigen Teufeleien der Welt? – Mir ist nichts Großes bekannt, was nicht bei seiner Ankunft in der Welt den heterogensten Parteien mißfallen hätte. Mein Freund! es gibt eine mittlere unsichtbare Meinung in der Welt, die nicht ausgesprochen wird, weil sie gerade nicht in den einzelnen Köpfen steckt, weil sie, ich möchte sagen, elementarisch und bewußtlos zugetheilt ist unter den Einzelnen; es gibt eine mittlere Meinung, die unendlich mehr bedeutet, als die Summe der ausgesprochenen Meinungen, und wenn auch alle Einzelne gefragt werden könnten. Jede instinktmäßige Aeußerung und Handlung in den Einzelnen, jede Zuckung unserer kränkelnden Staaten, jede bewußtlose Oscillation in den Wissenschaften, genau genommen, jede Recension der beschränktesten Natur kann mir nichts anders sagen als: du hast Recht! – Also sehen Sie wohl, würde das einförmige Applaudissement der einzelnen Menschen mir den tausendförmigen Beifall der Natur, mir dieses Anlächeln aus der Verwirrung, Zerstörung, Verwesung dessen, von dem ich weiß, daß es zu höherem Leben erwachen wird, schwerlich ersetzen können. – Das ist die größte Probe, ob der Mensch selbst einen lebendigen, einfachen, mittleren Standpunkt gewonnen hat, – daß ihm, alles zu allem gerechnet, auch nur die lebendige, einfache mittlere Meinung über ihn zu Herzen geht und haftet. Diese kann man nicht verletzen; die Bitterkeit und Kränkung des ersten Momentes gleitet ab; das heilige Gebot: segnet, die euch fluchen, heißt: segnet die, durch deren Fluch Gott, auf eine eigen piquante, nur schönen Seelen begreifliche Art, euch segnet, schöner segnet, als durch seinen direkten Segen. Ich will lieber krank seyn, selbst die Zügel des Schmerzes fühlen, als einen andern Freund, den ich recht liebe, neben mir krank sehen. So, mein Freund, sind Sie aus persönlicher Liebe zu mir vielleicht besorgter bei den Angriffen auf mich, als Sie bei solchen seyn würden, die Sie selbst träfen; sonst begreife ich nicht, wie sämmtliche <162:> Recensenten Sie von einem großen Werke abhalten könnten, das seinen eigenen Gang durch die Völker und Zeiten wandelt, wenn es auch mit Buchholtz’schem Adelsbuche, oder Gott weiß mit was allem dieser Zeit, die Druckerschwärze und die Zungen theilen müßte.

So viel über die Angriffe gegen mich, für die ich mich nicht anders rächen kann, als indem ich mein eigenes Werk durch noch Vortrefflicheres überbiete, und nach unmittelbarem Beifall, auch der Einzelnen, noch kräftiger ringe. Denn aus meiner Eifersucht auf Ihr Verständniß und auf Ihren direkten Beifall mögen Sie erkennen, daß ich mich menschlich schwach denn auch nicht allein mit jener mittleren Meinung begnüge. Ich läugne nicht, daß ich durch Ihr langes Stillschweigen und durch die Nachricht Ihrer Bestürzung über die Schicksale meines Buchs zu einigen Beschwerden über Sie angetrieben worden bin, die ich aber zurücknehme, wenn Sie den Geist meines Buchs auch nach jenen Recensionen anerkennen wie ehemals; dem unerachtet erfreue ich mich Ihrer immer gleich erfrischenden Freundschaft, die ich auch heut bei Lesung Ihres Briefes in vollem Maße empfunden. Es ist nur der innere lebendige Glaube an ein drittes Höheres, der zwei Menschen bei einander erhält, ich möchte sagen für die Ewigkeit; denn eine Zeit, wo Sie seyn würden ohne mich, oder ich ohne Sie, weiß ich nicht zu denken. Wenn Sie aufhörten, mich und meine Art und Kunst anzuerkennen, so würde die einzige Zuflucht verschwinden, die mein Geist trotz allen Muthes braucht, um in göttlichen Bestrebungen auch gehörig der Erde treu zu bleiben. Darum erbittert mich niemand wie Sie, vornehmlich durch Zweifel oder Mitleiden – ich meine Zweifel an dem philosophischen Wunder, das der Glaube in mir angerichtet, und Mitleiden, daß Geist und Kräfte in mir dem Glauben nicht gewachsen wären. – Mich befremdet, daß Sie unter den Meßartikeln der Runge’schen Farbenkugel und der Goethe’schen Farbenlehre nicht gedenken. Ich glaube, ich habe Ihnen schon in ganz frühen Zeiten, 1802 in Dresden oder 1805 in Wien, von meiner Ueberzeugung gesprochen, daß die Sphäre der einzelnen Sinne, ebensowohl wie die der Totalität aller Sinne oder des Menschen, nur nach den Gesetzen der Kugel construirt werden könne; auch müssen Sie sich des Wortes: Farbenkugel, aus unsern Gesprächen erinnern. Zu meiner großen Satisfaktion sehe ich nun ganz deutlich die Wissenschaften von den Enden der Welt herkommen und sich der allgemeinen Form bequemen, die ich schon in <163:> meinem ersten Versuche über den Gegensatz als die einzige, unvergängliche angekündigt hatte. Es ist zu weitläuftig, hier anzuzeigen, in wiefern mir die erwähnten Werke genügen: Runge ist mir lieber, wenn ich auch den unermeßlichen Fleiß, die beispiellose Zergliederung vorhandener Ansicht, die Weisheit der ganzen Behandlung in dem Goethe’schen Werke nicht genug rühmen kann und Ihnen zumal den zweiten historischen Theil, die Parallele zwischen Platon und Aristoteles, die Portraits des Descartes, Newton, der beiden Baco &c. nicht genug empfehlen kann. Goethe ist dahin gelangt, daß er den Gegensatz das Urphänomen nennt, und tausende von gegensätzischen Erfahrungen dem Newton entgegenstell; da er aber der Mathematik geflissentlich ausweicht, also den Gegensatz künstlerisch und lebendig zu dem Urinstrument alles Handelns auszubilden unfähig ist, da er den Charakter seines eigenen Bestrebens bei allem Eifer für den Gegensatz und gegen Newton so wenig versteht und beherrscht, daß es an einer ganz verborgenen Stelle des Werks und nur vorübergehend ihm einfällt zu bemerken, wie er die Farben werdend, während Newton sie bloß seyend betrachtet, – so können Sie wohl denken, daß es mich nicht vollständig befriedigt. – In dem Maße, als man astronomisch durch Fernröhre das Auge für die Betrachtung der Objekte (der Gestirne) schärft, in demselben Maße werden die Instrumente wegen der Bewegung jener Objekte auch unbequem. Wir haben das Gestirn kaum ins Auge gefaßt, so rauscht es auch an dem Instrument vorüber. Wir müssen einen Mechanismus erfinden, der uns und unser Instrument dem Sterne nachführe; wir können den Stern nur mitwandelnd betrachten. So ist es mit der genaueren, geschärften, wissenschaftlichen Betrachtung insbesondere, und, nur unmmerklicher, mit aller Betrachtung überhaupt. – Wie die Schärfe der Betrachtung zunimmt, so muß auch die Beweglichkeit des Betrachters zunehmen; daher der Untergang aller fixirten Contemplation, der nicht die entsprechende That und Bewegung zur Seite geht. Daher das ewige von mir vindicirte Gesetz aller aller Wissenschaften (das Fundament meiner Elemente und aller Arbeiten meines Lebens). Nicht bloß die Gestirne, alle Objekte des Denkens und Wissens bewegen sich, und nur der Mitwandelnde und Mitlebende kann sie fassen, nur im Fluge sind sie zu ergreifen. Daher gibt es eine Kunst, That und Bewegung allenthalben zu verflechten, das Wissen nicht anders zu beachten als im Gegensatz der That – diese nenne ich das Urinstrument alles Lebens, <164:> aller Philosophie – und so folgt, daß mit dem Urphänomen allein, wie bei Goethe und in der ganzen heutigen Naturwissenschaft, nichts Befriedigendes ausgerichtet werde; daß das Urphänomen (der Gegensatz) nichts sey an und für sich, aber alles im Gegensatze, in und neben der Urthat, dem Urinstrument (die Behandlung des Gegensatzes, die gegensätzische Form, gegensätzische Logik und Mathematik). – Vergeben Sie, daß ich Goethen benutzt habe, um mein eigenes Bestreben, worin ich noch ohne Genossen bin, Ihnen von Neuem zu charakterisiren. – Nun aber zurück zu dem näheren.

Ich werde Ihnen nächstens das erste Heft der Staatsanzeigen zusenden, die ich auf meine eigene Hand herausgeben will. Sie sind bloß der ernsthaften Erwägung aller innern Administrationsgegenstände bestimmt; meine Theorien der Staatswirthschaft werde ich praktisch in allen Theilen auseinander setzen; das wichtigste und erste aller Verhältnisse, worüber noch kein Mensch geschrieben, und was, ich darf es sagen, noch niemand erkannt hat, das Verhältniß des Staatswirthes zum Landwirthe, werde ich von allen Seiten auseinandersetzen; die Ständeverhältnisse und meine Ideen, zumal über deutsche Verfassung, werde ich hinlegen und einmal versuchen, ob ich auch wohl in praktischer Hinsicht vor Ihnen aufkommen kann. Gefällt Ihnen diese Sammlung, so hoffe ich noch, Sie mit Ihren vortrefflichen Ideen über das österreichische Papiergeld herbeizurücken, und Sie für den Antheil an einer Unternehmung zu gewinnen, zu der, der wichtigsten und nothwendigsten von allen, ich vom Schicksal eigentlich hingezwungen worden bin. Entschuldigen Sie im Voraus, daß ich die wissenschaftliche Anglomanie, das Unwesen, welches mit der englischen Landwirthschaft und mit Adam Smith getrieben wird, besonders verfolge. – Ich breche ab, indem ich bemerke, daß ich, ungeachtet der Ausdehnung meines Briefes, von dem Unendlichen, was ich Ihnen zu sagen habe, fast nichts gesagt habe. Leben Sie wohl und gönnen Sie die Empfindung, mit der Sie mich ehemals geliebt, auch heute noch keinem andern. Ihr ganz ergebener

A. H. Müller.