Briefwechsel

16.

Berlin, 25. Juni 1803.

Bei einer ruhigen, prüfenden Lektüre der Delphine kömmt mir mit manchen Erinnerungen an unsern unvergeßlichen Aufenthalt in Dresden der Gedanke ein, Ihnen, mein liebster Gentz, einen befriedigenden und für meine gegenwärtige Existenz vollständigen Brief zu schreiben. Vor zwei Monaten hatte ich Ihnen sehr viel über den heiligen Augustinus bei Gelegenheit seiner Wiedererweckung durch den guten Stolberg geschrieben; mein Brief wurde durch einen betrügerischen Boten unterschlagen, und bei meiner Schreibeträgheit hat es seitdem zu nichts zwischen uns kommen können. Ich bin Zeuge Ihrer Correspondenz mit Brinkmann, Ihrem Gesandten bei der Literatur, der Philosophie, der hiesigen großen Welt u.s.f. und ich muß gestehen, daß mich Ihre Briefe an ihn in jeder Rücksicht wenig befriedigen. Es mag also mein Nebenzweck seyn, einen großen Bericht über Ihre Lage, Ihre gegenwärtigen Ansichten, der etwa <15:> durch eine außerordentliche Gelegenheit gehen könnte, für mich herüberzulocken; denn da alle Aussicht für mich verschwindet, Sie in langer Zeit wiederzusehen, da ich doch wohl dem bereits seit 14 Tagen abgereisten Sigismund werde folgen müssen, trotz meinem so fest an Berlin gebundenen Herzen, trotz der politischen Wichtigkeit dieses Augenblicks - so muß denn wohl geschrieben werden. Mein Hauptzweck ist, Ihnen zu zeigen, wie mein Gemüth unter allem Wechsel der Begebenheiten immer reicher und fester wird, wie Sie also, mein geliebtester Freund, immer sicherer darauf rechnen können; wie meine Liebe unter allen Gütern Ihres vielerreichenden und vielverstreuenden Lebens, und Ihres dennoch so begüterten, so wohlhabenden Charakters doch wahrscheinlich das unbeweglichste und treueste ist. Andere mögen lauter seyn, und uneigennütziger scheinen; aber Sie selbst werden es nicht läugnen, was diese andern Männer von dem großen Reichthum Ihrer außerordentlichen Natur erhascht haben, das ließen Sie, mein Freund, entweder in dem Schrecken vor ihrer concentrirten Gewalt in einzelnen Momenten, die die ärmere Natur der liberaleren, reicheren so leicht abzugewinnen weiß, nachlässig hinfallen, oder Sie verschwendeten es im Uebermuthe der Jugend, des Glücks, und in der lieben, unbesorgten Gutmüthigkeit Ihres sonderbar aus Süden und Norden, oder vielmehr aus Orient und Norden gemischten Temperaments; das einzige, wenn auch wenn auch bei Ihrem Reichthum kleine, doch mit voller Absicht und mit reinem Vertrauen auf die Begünstigung der Natur, also mit zwar stillerer, aber der dauerndsten Liebe angelegte Kapital habe ich erhalten, und Sie mögen es vielleicht jetzt selbst noch nicht glauben, aber ich bin davon überzeugt, Sie sind mir sicher und gewiß, weil ich es Ihnen bin; Sie und Ihre Liebe sind mir sicherer als allen, allen andern, weil ich Ihr größter Schuldner bin.

Die Zeit, die uns freilich anscheinend immer weiter entfernt, und die ich noch eine lange Strecke vor mir hinlaufen sehe, ohne daß Sie mir wiedergebracht werden, wird mein Wort dennoch bekräftigen: mein Herz (denken Sie künftig an diese Verkündigung!) wird Ihre einzige Ruhestätte seyn, wenn Sie "der Meere, Reisen und Kriege satt" sind. Was Sie in Dresden in einzelnen glücklichen Augenblicken letzthin an mir sahen, das ist mein eigenes Handeln, das wenige an mir kennen, und das mich zu der wunderbaren Ruhe und Selbstgenügsamkeit erhoben hat, die in Berührung der starren und schroffen Welt meiner Zeit wie kalter Eigensinn, <16:> wie ausschließendes spekulatives Talent, wie Mangel an praktischer Fähigkeit, oft gar wie Verrücktheit erscheinen mögen, aber die allein ein Element für die Bildung des Gegensatzes werden konnten. Ihr weitgreifender Sinn, Ihre wirklich erhabene, von gemeiner Beweglichkeit und Rührigkeit so unendlich weit entfernte Unruhe hat Sie nur selten diese befriedigte, und während Ihres Aufenthaltes in Berlin noch so enge Sphäre meiner eigentlichen Existenz berühren lassen.

In unsrer Dresdner Nacht ließen Sie sich fest halten, und ohne Ihre Versicherung weiß ich, daß Ihnen diese Nacht unvergeßlich ist. Indeß hat sich diese Sphäre erweitert; das was sie bisher bildete, ich weiß es, ist der Keim des ewigen Lebens, und lassen Sie diesen verscheuchten, verjagten Tod noch eine zeitlang mir Mauern entgegenstellen, lassen Sie ihn erscheinen wie eine traurige, ärmliche herzverengende Moral, die ich den eigentlichen Seelengeiz nennen möchte, weil sie alle Mittel des jugendlichen, reichen, frischen Lebens, alle Neigungen und Wünsche des kaum geöffneten Herzens in die allgemeingültige Münze einer falsch verstandenen Gesetz- und Vernunftmäßigkeit umsetzt und dann verschließt, - oder wie die Revolution, die ich in gewisser Rücksicht jener entgegen stellen möchte, als reine permanente Verschwendung, weil sie verschlingt, ohne zu verzehren, raubt, ohne zu erwerben, weil sie die Schranken des Lebens zerbricht und das Gemüth in das Weltall hin verstreut, indeß jene Moral, ganz entgegengesetzt, die Schranken immer enger und dumpfer zusammenzieht, bis sie das Leben erdrückt hat und die Flamme erloschen ist: - lassen Sie den Tod erscheinen als Aufklärung oder als humanisirende, sentimentale Menschenrettung, als transscendentaler Idealismus in der Wissenschaft, als Böhmismus, spanische Krankheit in der Kunst - wo er sich noch regt, wird ihn die heitere Lehre des Lebens verfolgen und vernichten. Alle diese Erscheinungen, hinter denen sich das Hinneigen nach der Armuth und dem Tode versteckt, werden weichen, und sicher weichen. Aber die Lehre des Gegensatzes steht so unerschütterlich fest, daß die Irrthümer, die sie aus Gegenwart und Zukunft verscheucht, die aber doch einst da und wirksam waren, ruhig am Himmel der Geschichte, der Erinnerung, wie Punkt und Antipunkt wieder heraufsteigen. Einseitig, absolut traten sie auf, der Idealismus, die romantische Wuth, die Sentimentalität, die Aufklärung, als Verirrungen des Einzelnen werden sie verfolgt und vernichtet; aber im Universum gibt es keine <17:> Verirrungen, im ganzen betrachtet lösen sich die einzelnen Dissonanzen in harmonische Akkorde auf. Hier zeigt es sich, daß die Verirrung selbst wieder nicht absolut, nicht isolirt, nicht ohne entgegengesetzte, wahre Antiverwirrung dastehen kann; sobald aus falscher Ansicht des Wissens sich die Aufklärung im Zeitalter erhebt, so bald und zu derselben Zeit und nothwendig steigt ein entsprechender Irrthum der Phantasie, wenn ich so sagen darf, die süßliche, friedliebende, humane, Hussiten-, Rumfordssentimentalität herauf. Beide Erscheinungen mußten neben einander gehen, eine wurde nur durch die andere möglich, nur durch ihr Gegengewicht konnten sie bestehen. So stolz der Idealismus auf die Aufklärung, die neue Romantik auf die Sentimentalität herabsieht, so ist vor Gott und dem Gegensatz der Idealismus doch nichts als Quintessenz, als höchster Gipfel der Aufklärung, wie die Tieck'sche Romantik nichts als Gipfel der Sentimentalität. Auch diese Erscheinungen mußten nothwendig neben einander gehen; aber es ist auch nichts gewisser, als daß eine immer nur durch die andere begreiflich wird; um Fichte zu kennen, muß man Tieck und seine Schule betrachten, und umgekehrt. Diese auf ihrer Reise nach dem Süden haben Shakespeare schon weit hinter sich, in Europa kommt nur Spanien noch in Betracht; wenn sie erst in Indien angekommen seyn werden, wird auch dieß verschwinden und vor unsern eigenen Augen werden wir sie unter dem Aequator zerfließen oder verdunsten sehen. Fichte zieht die Sphäre der Philosophie immer enger zusammen, stößt immer mehr Leben aus dem Zauberkreis heraus, selbst seine neue Darstellung der Wissenschaftslehre wird immer kürzer, und wir werden es erleben, den Philosophen und seine Darstellung werden wir ersticken sehen. Habe ich nicht Recht, diese Erscheinungen zu verbinden? Ist das letztere nicht die umgekehrte Erscheinung, der umgekehrte Proceß des ersteren, wie oben bei der moralischen und revolutionären Denkungsart?

Wie erhebt sich neben dieser verkleideten, künstlichen Armuth, die für sich nicht einmal interessiren kann, weil sie durch ihren Gegensatz erst Sinn und Bedeutung erhält, die wahrhaft reiche, wahrhaft lebendige Natur, in deren Innerem alle die Gegensätze sich vereinigen, die jene nur zeigen, wenn man sie in Masse betrachtet! An ihr zeigt es sich, daß wahrer Reichthum und wahre Oekonomie die entgegengesetzten Begriffe einer und derselben Sache sind; der reichste Staat in diesem Sinne des Wortes ist auch nothwendig der, in dem das Gesetz am deutlichsten <18:> ausgesprochen, am siegreichsten dasteht; je größer, je mannichfaltiger der Reichthum, die Bedürfnisse, die Neigungen, die Talente einer Natur, je einfacher, d.h. gesetzlicher ist sie auch. Die nothwendigen, wahrhaften Schranken des Lebens sind fest und doch unendlicher Erweiterung fähig, die Schranken der elenden Moral sind schwerfällige Mauern, Schanzen und Gräben; und gegen diese Moral gibt es doch noch immer kein schöneres Wort, als das des Tobias zu Malvolio beim Shakespeare: „Meinst du, weil du tugendhaft seyest, sollte es in der Welt keine Torten und keinen Wein mehr geben?“

Ich breche diese Ausschweifung ab, die mich zu weit geführt hat; der Gegensatz, davon überzeuge ich mich immer mehr, läßt sich nur mündlich lehren, oder durch die Poesie im engeren Sinne des Worts. Sprechend und handelnd muß der Meister vorangehen, wenn er verstanden seyn will, und so möchte sich dieß alles vielleicht dereinst in eine neue Akademie (die Platonische meine ich) endigen. Ihnen aber, liebster Gentz, wollte ich bloß zeigen, wie nothwendig unsere Wege wieder zusammen führen müssen, wie Sie von keinem mehr geliebt werden, wie keiner öfter mit Ihnen und um Sie im Geiste lebt, als ich.

12. Juli 1803.

Seit der Zeit, da ich den ersten Theil dieses Briefes schrieb, hat sich einiges in meiner Lage verändert, wovon ich Sie doch auch unterrichten muß. Sie werden von Brinkmann entweder schon erfahren haben, oder doch mit der heutigen Post erfahren, daß ich seit vier Wochen in der Politik lebe und webe, daß ich mit dem hiesigen englischen Gesandten in einige Connexion gekommen bin, und in einigen Tagen eine kleine Schrift über den gegenwärtigen Krieg drucken lassen werde. Unser Sigismund muß freilich dabei warten, er bestürmt mich mit Mahnbriefen voller Liebe und Verlangen, und so entwickelt sich meine Existenz auf eine etwas unangenehme Weise. Bei allen meinen Kräften, die sich jetzt immer mehr, und ich glaube, wenn Sie mich jetzt sehen sollten, zu Ihrem Beifall entwickeln, ist doch meine Aussicht für die Zukunft noch dunkel und hoffnungsleer. Auf irgend eine Versorgung in diesem Lande habe ich Verzicht gethan; vor der Hand möchte ich am liebsten in der englischen Miliz gegen die Landung dienen. Ueberhaupt mag ich es Ihnen nicht beschreiben, wie mich alles nach dieser einzigen, herrlichen Insel hinlockt; wie alle Hoffnungen <19:> meines Lebens nur dort einen Boden finden, wo sie sich anbauen; wie ich alle meine Kräfte hergeben könnte, um in der gefahrvollen Zeit, die heranrückt, dort den kleinsten Dienst zu thun. Eine Sehnsucht wie diese zieht ihren Gegenstand selbst heran, auf irgend eine Weise führt mich mein Schicksal nach England; und dort oder nirgends werden sich einst die Bogengänge meiner Akademie erheben. Je näher ich die englische, so sehr verschriene Philosophie (wie denn noch Schleiermacher in seiner neuesten Kritik der Moral Garve zum beständigen Repräsentanten der englischen Philosophie macht) betrachte, je deutlicher wird mir die Größe ihres spekulativen, obgleich häufig durch auswärtigen Einfluß oder durch Sekten- und Parteigeist mißgeleiteten Talents. Und dann entsprang ja der Gegensatz in England, die Lehre von der Kraft und Antikraft, das Gravitationssystem, und da nur der Charakter philosophiren kann, eben weil er nur handelt, wohin kann sich die Philosophie retten in dieser sinkenden, ohnmächtigen Zeit als dorthin? Alle bestimmten Pläne für die Zukunft können zu keiner Zeit so thöricht gewesen seyn, als jetzt; aber ausgemacht ist es, daß dorthin alle unsere Wege führen. Ich will die allgemeine Lehre vom Gegensatz so an Newton anknüpfen, so in seine Werke einweben, daß daß wir die ganze Welt gewinnen wollen, warum nicht auch den ruhigen, guten, schlichten Sinn von Alt-England? - Freilich werden wir (nach dem Observateur über die englische Kriegsdeclaration im Moniteur) auch den Neper, den großen Neper nicht vergessen dürfen, der für Kinder und Schwachsinnige gewisse berühmte Rechenstäbchen erfunden hat. Wenn der im Moniteur neben Newton stehen darf, so werde ich ja wohl nicht unbescheiden aussehen, wenn ich in diesem anspruchslosen Briefe meine Arbeiten an seine Werke gereiht habe. - Empfehlen Sie mich doch wo Sie können in England, liebster Gentz; ich cultivire die Sprache so, daß ich dem Gesandten schon etwas damit habe imponiren können, wie ein Deutscher überhaupt einem Engländer imponiren kann. Will irgend ein Lord sich auf Reisen führen lassen, wenn nur das letzte Ziel England ist. Daß ich auf vielen Soirées des P. L. gewesen bin, wo außer der göttlichsten Musik auch recht angenehme Conversationen geführt wurden, habe ich Ihnen, glaube ich, schon geschrieben; eben so auch, glaube ich, von meinem häufigen Umgang mit Wiesel, der sich sehr an mich attachirt hat. Es ist aber auch der leichteste, klarste und im Umgang liebenswürdigste und bequemste Mensch und hat außerordentlich viel von dem, was mir <20:> fehlt. Die Erinnerung an den guten Sigismund fällt mir in diesem Augenblick wie ein Stein auf das Herz; aber 30 Meilen weiter von England, die Nachrichten von der Landung vielleicht drei, vielleicht acht Tage später! Wie wird der Himmel diesen Knoten meiner Schicksale lösen!

Könnte doch diese schon zu lange Nachricht über meine gegenwärtige Lage und Denkart Sie befriedigen, mich entschuldigen für die lange Lücke in unserer Correspondenz und aus Ihnen einen größeren, vertrauteren Brief herauslocken, als die Brinkmann'schen, die immer so kurz, so vorsichtig, so litterärisch sind!

Niemand kennt und liebt Ihr großes Herz wie ich; auf Niemanden, ich wiederhole es, können Sie fester vertrauen als auf mich. Nicht ohne die herrliche Rührung, die das Gefühl eines außerordentlichen Glücks, eines großen Vorzugs vor den übrigen erzeugt, kann ich es bedenken, daß mir das große, reiche Schauspiel Ihres Lebens und ein so volles Maß Ihrer Liebe gewährt wurde. Halten Sie mich fest, liebster Gentz; nie werde ich die kleinste Aeußerung Ihres Vertrauens und Ihrer Liebe ohne den innigsten Schmerz fahren lassen. Mit andern Leuten geht man eine Strecke, sie können nicht weiter, aufhalten kann man sich nicht, man läßt sie leichten Herzens zurück. Hängt man so an einander, lebt man in Ferne und Nähe so in und durch einander als wir, so muß die Asche sich noch sehnen. Hier und dort

Ihr

A. H. Müller <21:>