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Roland Reuß Celan-Provokationen Aus der Einleitung: Verwendet jemand im persönlichen Gespräch ein Wort, eine Wendung, die ich nicht verstehe, habe ich immer (mindestens) zwei Möglichkeiten des Verhaltens. Setze ich voraus, es reiche, das Gegenüber vage zu verstehen, werde ich über die Störung hinweggehen und versuchen, das vom Sprechenden Gemeinte über den Kontext zu erschließen. Ein solches, durchaus gängiges und scheinbar ökonomisches (man könnte auch sagen: verstehensfaules) Vorgehen wird aber spätestens dann an seine Grenze stoßen, wenn die Bedingungen des Verstehens nicht mehr gemäß der üblichen, am Bild des Puzzles orientierten Vorstellung des Kontextes eingelöst werden können, sondern das in Wahrheit dialektische Verhältnis im Kontextbegriff hervortritt, das in den holistischen Hermeneutiken der Tradition von Schleiermacher bis Gadamer immer unterdrückt worden ist. Ihm zufolge sind Geäußertes und der Kontext des Geäußerten so innig mit- und durcheinander vermittelt, daß sie kommunizieren. Kommunizieren heißt aber: Der Kontext, das Ganze, dominiert nicht das Geäußerte, sondern wird von diesem selbst wiederum rückwirkend so bestimmt, daß schließlich der Gedanke eines Herrschenden überhaupt fallengelassen werden muß. Jede Äußerung kann für den, der zuhört, ihren eigenen Kontext aufspannen, mit ihm in Wechselwirkung treten. Anders gewendet: Was wäre der vorauszusetzende Kontext von Pallaksch, der es mir erlaubte, die Bedeutung dieses Wortes (dieses Lauts) zu bestimmen? Die zweite Möglichkeit, die ich habe, wenn ich eine Äußerung meines Gesprächspartners nicht verstehe, ist: zurückzufragen, ihn um eine Paraphrase, eine weitere Explikation zu bitten. Entscheidend für das Gelingen des Verstehens in seiner Grenze ist dabei, daß diese Frage zugleich mit dem Geständnis einhergeht, daß mein eigener Horizont, auch mein eigener Wortschatz möglicherweise doch nicht so abgeschlossen und ein für allemal verfugt ist, wie ich das, aus welchen Gründen auch immer, gerne hätte. Das Wort, die Wendung des Angesprochenen sind dann nicht der fehlende Teil, den ich in den Grundriß meines Puzzles einbaue, sondern sie sind so frei, mich möglicherweise die Hinfälligkeit der sorgsam gehegten vorangehenden Ordnung erfahren zu lassen. Eigentliche Erfahrung des Lernens: Es gibt keinen Primat des Ganzen vor den Teilen. Gegenüber der hermeneutischen Bemühung, Celans Gedichte zu verstehen, ist die mündliche Situation natürlich privilegiert. Sprechender und Verstehender befinden sich gemeinsam in einer Lage, die Paraphrasen, Erläuterungen, Zeichen und zugleich die Bitten um diese erlaubt. Da der Ausgang jedes wirklichen Gesprächs, ich bin versucht zu sagen: gottseidank, nicht schon vorher feststeht, wird man in dessen weiterem Verlauf schon über kurz oder lang herausfinden, ob man sich und einander verstanden hat oder nicht. Celans Gedichte liegen hingegen als gedruckte Texte und hand- bzw. maschinenschriftliche Überlieferung vor, als nackte Schrift. Eine Rückfrage an den Autor ist nicht möglich, und selbst wäre sie dies Problem jedes Autorkommentars , stellte sich immer noch die Frage, ob die Auskunft zuträfe, die man erhielte. Scheidet der direkte Weg der Rückfrage aus, kann man auch hier wieder die Methode wählen, sich das Unverstandene aus dem Immer-Schon-Verstandenen herzuleiten. Eine der am meisten verbreiteten Strategien, sich und anderen seine eigene Unzulänglichkeit an dunklen Stellen zu verbergen, ist, das Unverstandene als Metapher zu deuten, und d. h. letztlich es aus Bekanntem kombinatorisch herzuleiten: »Kluftrose« = Kluft + Rose. Daran ist weniger zu kritisieren, daß der Ausdruck Metapher überhaupt im Zusammenhang von Celan-Gedichten fällt; zu kritisieren ist vielmehr, daß das Nicht-Verstehen nicht zunächst dazu führt, der Unabgeschlossenheit seines eigenen Wortschatzes innezuwerden und in der Konsequenz den langen Weg über Wörterbücher, Lexika oder andere Bücher einzuschlagen. Es ist nicht einfach zusätzlich hilfreiches Spezialwissen, von dienenden Philologen herbeigeführt, wenn das Wort »Kluftrose« nicht nur metaphorisch, sondern auch in seiner lexikalischen Bedeutung bei der Auslegung eines Gedichts wie »Harnischstriemen« fruchtbar gemacht werden kann. Das Ethos nicht nur des Philologen, sondern auch des Philosophen sollte jedem Automatismus der Zurückführung von Unbekanntem auf Bekanntes von Anfang an widerstehen. Die Kenntnis der Herkunft eines Wortes, gerade wenn seine Fremdheit als Unverstandenes, und d. h. als Widerstand, manifest war, hat tiefgreifende Auswirkungen auf das Verständnis des Gedichts. Die Celanschen Gedichte erbitten den Umweg über die Lektüre anderer Texte, Artikel, literarischer Quellen, man könnte auch sagen: Sie setzen die Institution Bibliothek voraus, Gänge, die gemacht werden müssen gegen die Versuchung, seine eigene Unwissenheit zu beschwichtigen, sich zuzumachen gegenüber dem Anspruch jedes einzelnen dieser unscheinbaren Gedichte. Es kann zwar sein, daß man, weit weg von all dem, in den Dünen, umgeben vom Strandhafer, diese Texte für sich zu verstehen glaubt; aber was ist das dann für ein Verstehen? Und vor allem: Was passiert, wenn es sich zu begreifen und dieses Begreifen auszusprechen sucht? Die Sprache des Begriffs, von der klassischen Hermeneutik ohnedies stiefmütterlich behandelt, nötigt zu einsichtiger Plausibilität und diskursiver Rationalität, bei der es dann schon einen Unterschied macht, ob ich die Semantik eines Wortes kenne oder sie mir nur zurechtgelegt habe. Die Interpretation ist am allerwenigsten die Aussprache dessen, was mir so anläßlich der Lektüre eines Textes durch den Kopf ging. Und eben darum gibt es keinen einfachen interpretatorischen Zugang zu Celans Gedichten.
Lesen Sie die vollständige Einleitung als pdf-Datei. Das Buch ist zur Buchmesse 2001 im Stroemfeld Verlag (Frankfurt am Main/Basel) erschienen
Inhaltsverzeichnis Einleitung 7 |
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