Peter
Villwock Die BFA ist eine Lese- und Studienausgabe, die Notizbücher erscheinen nun in einer kritischen Gesamtausgabe. Daraus ergibt sich im Grunde das übrige. Trotzdem nochmals im einzelnen: Der BFA ist nicht vorzuwerfen, daß sie aus den Notizbüchern ausgewählt hat, das liegt bei einer Auswahlausgabe vielmehr in der Natur der Sache. Zu korrigieren war die Behauptung, sie habe es nicht anders machen können. Zudem wäre bei dem wissenschaftlichen Anspruch, mit dem sie auftritt, eine Definition, was eine »große Werkausgabe« – ein Begriff, den Knopf verwendet, als wäre es ein eingeführter Editionstypus – eigentlich sein soll und was nicht, ein Hinweis auf das Faktum der Auswahl (statt der falschen Selbstetikettierung als »Gesamtausgabe«) und eine Offenlegung der Auswahlkriterien (was zählt als »bloße Notizen«, »Zeilenschrott« und »Geschreibsel«, was nicht, was gehört »partout nicht« dokumentiert, was doch?) im Editionsbericht zu erwarten gewesen. Noch einmal: Die Notate sind im BFA-Register nicht als solche ausgewiesen und also auch nicht als solche suchbar. Teilweise zu finden sind die aus den Notizbüchern entnommenen und hergestellten Texte, sofern man ihren Titel, Incipit oder Herausgebertitel kennt. Beispiel: in NB 25 (BBA 363) finden sich die zusammenhängend notierten Eintragungen (1) »etwas was so leicht ist ...«, (2) »von der logik: was nützt es ...«, (3) »das einzige was ich euch über den stil sage ...« und (4) »wer überreden will ...«. Das erste Notat wurde (als bloßes Geschreibsel?) nicht aufgenommen. Im Register zu finden sind das dritte – aber nur in der überarbeiteten Fassung »Das einzige was Herr Keuner über den Stil sagte ...« (BFA 18 [Prosa 3], S.29) – und das vierte – allerdings nur unter dem Herausgebertitel »[Nicht überreden]« und in willkürlicher Kontamination mit den Folgenotaten (BFA 21 [Schriften 1], S.316). Letzteres erscheint nochmals für sich an anderer Stelle und in anderer Textredaktion (BFA 18 [Prosa 3, Kommentar], S.476), ist aber ebensowenig wie das zweite (BFA 21 [Schriften 1, Kommentar], S.727) im Register verzeichnet. Kontext und Zusammengehörigkeit der Eintragungen bleiben im Dunkeln. Die Notizbuchausgabe hat nicht die Aufgabe, mit den schönsten Exemplaren (wer entscheidet darüber?) Brechts Arbeitsweise exemplarisch zu zeigen, sondern sie vollständig zu dokumentieren. Reproduktionen und Umschrift geben das Schriftbild auf hohem technischem und editorischem Stand wieder, der Kommentar erschließt die Zusammenhänge. Das wird den Brecht-Experten die Reise nach Berlin ersparen, die nicht auf die besonderen Feinheiten dokumentarischer Materialität angewiesen sind (also den meisten), sondern sich für originale Schriftbilder, Kontexte und entstehungsgeschichtliche Zusammenhänge interessieren. Es wird denen, die nie auf die Idee einer Archivrecherche gekommen wären, zeigen, wie die Dokumente eigentlich aussehen und zusammengehören, und der Literaturwissenschaft neue Fragen und Perspektiven eröffnen. Notwendig ist die Gesamtausgabe der Notizbücher nicht für das »allgemeine Publikum«, für das die BFA erstellt wurde, sondern als Instrument und Grundlage der Forschung (woraus auch folgt, daß es hier nicht um einen Verdrängungswettbewerb gehen kann). Notwendig ist sie weiter, um die in der BFA nicht aufgenommenen oder inadäquat konstituierten und kaum zu findenden Notate in authentischer Form zugänglich zu machen. Notwendig ist sie schließlich aus archivalischen Gründen. Die Originale sind in prekärem Zustand, müssen vor weiterer Zernutzung geschützt werden und werden in Zukunft verstärkt Zugangsbeschränkungen unterliegen. Die verblassende Schrift, die jetzt schon oft undeutlicher ist als auf den Archivkopien der 1950er Jahre, wird irgendwann verschwunden sein. Die im Rahmen der Edition hergestellten Reproduktionen müssen dann als Ersatzkopie ganz an ihre Stelle treten. Angesichts des Informationsverlusts der Dokumente müssen sie umfassend erschlossen und zugänglich gemacht werden – je früher und hochwertiger, desto besser. Die Berichtigung eigener wie fremder Fehler sollte immer explizit und nicht stillschweigend erfolgen, da sie sonst unbemerkt bleiben und sich fortzeugen. Wissenschaftlicher Fortschritt basiert auf Falsifikation. Das ist eine Stärke, kein Makel und keine Aggression. Das Walzer-Lied Jetzt trinken wir noch eins (Text von Willy Rosen und Kurt Schwabach) wurde von Willy Rosen am 6. April 1929 mit Harry Jackson’s Tanz-Orchester (Odeon O-11135; Zweiteinspielung zwischen Januar und März 1930 mit dem Karkoff-Orchester) aufgenommen. Bis heute bekannt blieb es durch die Comedian Harmonists, die es am 7. Februar 1933 einspielten (Electrola EG 2933). Brechts Notiz stammt aus der ersten Hälfte des Jahres 1930. Die pauschale Abfertigung der an der BFA geübten Kritik als verfehlt und sachfremd scheint mir ihrerseits verfehlt. Abgesehen von der Selbstkritik der Herausgeber Knopf und Müller äußern sich auch viele andere (Hartung, Kuhn, Seidel, Völker, Wilke, Wizisla u. a.) durchaus sachbezogen, kompetent und keineswegs immer nur absprechend. Welches Interesse gar der Verlag an »aktiver Mitwirkung« am angeblichen Schießen gegen sein ›Flaggschiff‹ haben sollte, ist mir unverständlich; es entspricht nicht den Tatsachen. All dies betrifft die Notizbuchedition aber auch gar nicht. Diese schießt nicht gegen die BFA, sondern ergänzt und korrigiert sie in einem begrenzten Bereich und trägt damit zu ihrer Verwissenschaftlichung bei. Die Verdienste der BFA bei der Publikation und Popularisierung zahlreicher zuvor unbekannter Brecht-Texte und als Bündelung von Informationen sind anzuerkennen; die neue Edition profitiert explizit davon. Entgegenzutreten ist lediglich unberechtigten wissenschaftlichen Ansprüchen. Im Bruchforschungsbeitrag Knopfs war von einer Mißachtung seinder Beyer-Gegendarstellung seitens des Spiegels und der dpa die Rede, nicht, wie jetzt, von einer der BFA im allgemeinen und der Edition des Journals im besonderen seitens der Brechtforschung. Eine zielführende Auseinandersetzung wird sehr schnell mühsam, wenn sich die Argumentationsgrundlagen dauernd verschieben. Die Behauptung, jeder Text sei in der BFA am Original überprüft worden, ist nachweislich falsch. Beispiel: BFA 22, S.392 kontaminiert zwei Blätter aus NB 43 (BBA 805) so zu einem Text, wie das bei Autopsie nie möglich gewesen wäre (Nachweis s. Peter Villwock, Erdmut Wizisla: Brechts Notizbücher. Überlegungen zu ihrer Edition, in: Text 10 [2005], S.115-144, hier S.139-144). Peter Villwock |
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